: „Ich wüsste einen Platz für Bäume“
Heinrich Steinfest und seine neue Designerbrille sind am Sonntag gemeinsam zur OB-Wahl gegangen. Beinahe hätten beide bei Sebastian Turner gekreuzt, weil die Brille fand, es sei doch alles eh egal
von Heinrich Steinfest
s war Sonntag, es war Mittag, und ich befand mich alleine mit den drei Wahlhelferinnen im Wahlraum (passenderweise hatte ich mir zuvor den Psychothriller „Panic Room“ angesehen). Mit dem Wahlzettel in der Hand – auch diesmal gab es keine Kuverts, sparsames Stuttgart! – begab ich mich hinter eine der Abdeckflächen, die den Charme selbst gebastelter Kaninchenställe besaßen.
Alleine mit mir, unsichtbar für die anderen, schaute ich hinunter auf den Wahlzettel. Noch bevor ich die einzelnen Namen ausmachen konnte, vor allem den der Person, der ich meine Stimme zu geben gedachte, begannen die Buchstaben sich aus ihren Positionen zu lösen, wirbelten durcheinander, wurden kleiner und größer, pulsierten, manche in Flammen stehend, andere zu einem schwarzen krakenartigen Flecken verlaufend. In jedem Fall war es unmöglich, irgendeinen Namen zu erkennen. Was ich sah, war ein Gemälde im Stile des amerikanischen Expressionismus. Jackson Pollock oder so.
Ich dachte sofort, dass meine neue Gleitsichtbrille daran schuld sein müsste. Ein absolut sauteures Designerding, mehr eine Art Eigentumswohnung von Brille. Nun, vielleicht stand ich zu weit weg, aber auch beim Herunterbeugen blieb der verschwommen-expressive Eindruck. Weil ich nun zu denen gehöre, die sich durchaus ein Seelenleben scheinbar unbelebter Artefakte vorstellen können, dachte ich mir, dass meine Brille – diese luxuriöse Prothese – mich solcherart verwirren und dazu bringen wollte, jenen von mir gänzlich ungeliebten Kandidaten anzukreuzen, der ganz sicher sein Bestes tun würde, um ganz Stuttgart in einen glitzernden Einkaufstempel zu verwandeln und damit auch mehr Platz zu schaffen für exklusive Optikerläden.
Ich selbst hingegen gedachte – zähneknirschend, aber doch –, mein Kreuz in den Ring des Herrn Kuhn zu fügen (und in der Tat, jede Wahl ist eine Vermählung des Wählers mit dem Kandidaten). Vielleicht aber war meine Brille gar nicht so angepasst konsumistisch, wie ich dachte, sondern wollte mir vielmehr begreiflich machen, wie vollkommen gleichgültig es wäre, an welcher Stelle dieses abstrakten Bildes ich mein Kreuz setzen und es damit praktisch signieren würde. Wie egal es wäre, wen ich heiratete, weil ohnehin alle gleich seien. Ja, vielleicht ist meine neue Gleitsichtbrille ein Zyniker. Wer könnte es ihr verdenken?
Keine Liebesheirat, eher eine aus Vernunft
Doch ich wehrte mich, nahm die Brille herunter und führte meine behinderten, die Welt allein aus nächster Nähe erkennenden Augen ganz nahe an das Formular heran und fand jenen bestimmten Ring, in den ich kreuzweise mein Jawort einfügte.
Was hier geschah, war also keine Liebesheirat, eher eine, die die Vernunft gebietet. Richtig, früher sagte man gerne, dass die Liebe mit der Zeit kommt. Aber das wird heutzutage von vielen bezweifelt. In der Vernunftehe steckt potenziell die Lüge. Ein Verrat, noch bevor er begangen wurde. Eine Form von Prostitution. Eine Traurigkeit, die früher oder später dazu führt, dass einer der Partner zur Flasche greift. Oder beide.
Aber kann es nicht auch anders sein? Kann die Vernunft mitunter vernünftig sein? Sowohl vernünftig als auch leidenschaftlich?
Überall lese und höre ich, wie wichtig es wäre, die Stadtgesellschaft Stuttgart wieder zu befrieden und zu vereinen. Ich frage mich: Wieso denn bitte? Sind denn nicht viele der wichtigen Errungenschaften im Zusammenleben aus dem Streit, aus dem Disput und letztlich aus einer entschiedenen Durchsetzungskraft kleiner und großer Gruppen hervorgegangen?
Glaubt denn jemand ernsthaft, dass die Emanzipation der Frauen (wie wir sie bis jetzt kennen) geschehen wäre, hätte man darauf vertraut, dass all die privilegierten Männlein endlich so klug und einsichtig werden und darauf verzichten, sich bedienen zu lassen. Unsinn! Die Politik muss neue Verhältnisse schaffen, welche sodann, Generation um Generation, als etwas Selbstverständliches erscheinen. Die schwarze Pädagogik ist nicht verschwunden, weil deren Vertreter die unmenschliche Note ihres Treibens eingesehen haben, sondern weil neue Formen der Pädagogik ihr den Rang abgelaufen haben.
Sieht man sich die Verschandelung der Stadt Stuttgart an, so erscheint der Ruf nach „Friede“ wie das von mir so gerne zitierte „Hände falten, Goschen halten“. Die Spekulation ist gewaltvoll, profan, asozial. Hier muss gestritten werden, hier muss verändert werden. Worin sollte denn in dieser Frage der Frieden bestehen? Sich vollkommen der Willkür von Raubrittern zu überlassen, die mit Friedlichkeit immer die Friedlichkeit der anderen meinen? Nein, man muss kein Sozialrevolutionär sein, um dies zu beklagen. Sich dagegen zu wehren wäre ein christliches Gebot, meine ich. Man darf ruhig die Hände falten, aber der Mund muss offen bleiben.
Wer ernsthaft vorhat, die Gebäude- und Bodenspekulation in ihre Grenzen zu weisen, kann nicht ein OB für alle Bürger sein. Ein neuer OB sollte so mutig sein, das zu sagen. Wer ernsthaft vorhat, dem baulichen Ausbluten der Stadt Stuttgart entgegenzuwirken, wird nicht allen dienen können. Aber er kann Zeichen setzen, er kann Entwicklungen einläuten, die nach und nach zur Normalität werden, sodass man sich später fragt, wie das möglich war, dass Menschen einmal anders dachten und sich wie Barbaren aufführten.
Damit kein Irrtum entsteht: Es geht nicht um Klassenkampf, es geht nicht darum, den Gegner, den Andersdenkenden zu demütigen (dies sind Spezialitäten der CDU, die man sich wahrlich nicht zum Vorbild zu nehmen braucht), aber dort, wo Zerstörung und Destruktion absurderweise zum markanten Zeichen erfolgreichen Wirtschaftens gehört, sollte man Alternativen nicht nur aufzeigen (wie man brav in der Schule aufzeigt), sondern auch durchsetzen. Und Reglements schaffen, die sich nicht nach allen Seiten dehnen lassen und hunderterlei Schlupflöcher bieten.
Weil manches Wesentliche jedoch Zeit braucht, benötigt man Symbole, die für die Zukunft stehen. Symbole, die leicht zu bewerkstelligen sind. Etwa, dass Schulkinder umsonst die Stadtbahnen benutzen dürfen und jeder Bürger kostenfrei in die Museen darf (Museen, die ohne ihn, den Bürger, ja gar nicht existieren könnten). Symbole leiten den Weg, auch wenn's noch dunkel ist.
Klar, so was kann ein OB nicht allein durchsetzen, aber er kann es fordern und fördern, er kann das Klima schaffen, in das die anderen dann einlenken (ein gemäßigtes Klima, denn was wir haben, ist genau das Gegenteil: Übertreibungen an jeder Ecke: harte, kalte Winter und knallheiße Sommer. Der Frühling aber ist die Jahreszeit, in der verschiedene Milieus zusammenfinden.)
Ein OB, der wahrhaftiges Selbstbewusstsein besitzt. Und eben nicht das Minderwertigkeitsgefühl seines Vorgängers, welches gepaart mit dessen krankhaftem Ehrgeiz eine fatale Kombination ergab. Was die Stadtgemeinschaft von ihrem Häuptling verlangen darf, ist weniger Ehrgeiz und mehr Weisheit. Mir wäre ein OB lieber, der ausschlafen darf und dann am Nachmittag eine kluge Entscheidung trifft, als diese Leute, die schon zeitig in der Früh das Unglück anrufen.
Ein OB für alle Bürger! Wirklich?
Klar, als ich mir dann am Abend die Wahlparty der grünen Sieger ansah und der neue OB das Mikro ergriff, kam gleich zu Beginn die Rede davon, ein Bürgermeister für alle zu sein. Gut, das ist eine Phrase, die scheinbar dazugehört, als Signal, niemanden ausschließen zu wollen (wobei sich ja ein gewichtiger Teil der Leute selbst ausschließt, nichts liebt, nichts fürchtet, sich allein den Räuschen ergebend).
Wenn Herr Kuhn berühmt werden will, dann kann er das jetzt. Nicht nur einfach dadurch, bescheiden zu bleiben. Man sollte nämlich nicht die Höflichkeit mit der Bescheidenheit verwechseln, sondern eine Veränderung jener Verhältnisse bewirken, die uns einen Wohlstand beschert haben, der aber auf Kosten unserer Seele ging. Und die Frage ist jetzt, ob man gleich seinen Wohlstand einbüßen muss, wenn man darangeht, seine Seele zurückzuerobern?
Vielleicht ist es naiv, das zu meinen, aber ich denke mir, wenn alle wieder ihre Seele haben, dann geht auch ein jeder wieder zur Wahl.
Wie heißt es auf Wikipedia: Im Christentum ist Grün die Farbe der Auferstehung, es ist die Osterfarbe.
Die Grünen pflanzen doch so gerne Bäume. Ich wüsste einen Platz, wo sie das gut machen könnten. Aber das ist bloß ein Traum, der sich auf meiner Gleitsichtbrille spiegelt.
Heinrich Steinfest, Jahrgang 1961, Schriftsteller, liebt das Surreale und Fiktionale. Wenn es um seine Wahlheimat Stuttgart geht, kann er aber auch sehr konkret werden. Sein jüngstes Buch („Das himmlische Kind“) ist im Droemer Verlag erschienen.