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Archiv-Artikel

Mit dem Leib hören

KÜNSTLERROMAN Michael Roes entwirft in „Die Laute“ eine gebärdische Poetik des Schreckens

VON HANS HÜTT

Jäh rast das Rad den Berg hinab. Asis erlebt die Fahrt wie ein Nahtoderlebnis. Rafal, sein polnischer Freund, hat ihn auf den Sattel gesetzt und jagt ihm hinterher. Acht kurze Episoden schildern die rasende Fahrt ans Weichselufer von Krakau, an einem Ostermontag, dem Emmaus-Tag. Unten, am Ziel, wartet auf den Ungläubigen eine Überraschung.

In diesen Rahmen fasst Michael Roes seinen Roman „Die Laute“. Der junge Asis träumt zu Beginn von einer Karriere als Fußballspieler – bis er beim Spiel von einem Blitz getroffen wird. Schon kreist die Seele über dem leblosen Leib. Doch Dr. Fuad holt ihn ins Leben zurück. Dem ersten Zeichen folgt bald ein zweites: Asis hat akustische Halluzinationen, hört überirdische Lautenmusik, erzählt seinem Retter davon in Furcht davor, den Verstand zu verlieren. Der Arzt scheint vom Himmel gesandt. Statt den Knaben pharmazeutisch stillzustellen, schenkt er ihm eine Laute. Asis spielt die Laute sogleich wie ein junger Gott, verführt den berühmten Musiker Bilal dazu, von den vertrauten Weisen abzuschweifen.

Apoll und Marsyas

Asis gewinnt Bilal dazu, ihn zu unterrichten. Der alte Musiker lebt wie ein räudiger Hund am Rand der Gesellschaft. Eine erste Ahnung kommt auf, dass in dem Roman mehr auf dem Spiel steht als die Geschichte einer unglücklichen Liebe. Asis spielt wie besessen für Inaja und hört nicht auf Warnungen, bis Inajas Bruder Nassar die Laute zertrümmert, ihm alle Finger bricht und Abflussreiniger in die Ohren kippt.

Darauf verlässt Asis sein Heimatdorf im Norden des Jemen. Unterstützt von Dr. Fuad geht er nach Aden, lebt dort bei Fuads Bruder Ali, einem einflussreichen Zollinspektor, und besucht die Gehörlosenschule.

Aus zwei Perspektiven, eingerahmt vom Nahtoderlebnis der bergab rasenden Fahrradfahrt ans Weichselufer, erzählt Michael Roes die Geschichte von Asis. Die eine beschreibt die Schulzeit des Jungen in Aden, das Erwachen des Gebärdendichters. In der anderen erzählt Asis selbst von seiner Arbeit an der Oper, über den Wettstreit zwischen Apoll und dem Faun Marsyas. Er lebt im Krakauer Industrieviertel Nowa Huta, hat zehn Jahre bei dem berühmten Komponisten Adam Twardowski studiert, sortiert nachts am Flughafen die UPS-Luftfracht, kein sicherer Job für einen Jemeniten in Zeiten explosiver Druckerpatronen.

Apoll zieht Marsyas, in Asis’ Oper ein Hacker und Rapper, bei lebendigem Leib fachmännisch die Haut ab. Der gehäutete Marsyas gibt nicht auf. Der Hacker triumphiert über den Gott. Dieses Werk im Werk erzählt eine Passionsgeschichte, entwirft eine Kompositionslehre und zugleich eine Poetik des Gebärdischen. Was im Mythos den Faun zur Strecke brachte, ist der Preis, ohne den Wahrheit nicht zu haben ist. Kunst, Poesie, Literatur sind das Werk von Gehäuteten. Um den einen Sinn gebracht, macht Asis alle anderen scharf und findet seinen Platz als Künstler im Aufruhr der Sinne. Der Plot des Romans erinnert an die Vorrede zu Nietzsches Zarathustra: „Da stehen sie“, sprach er zu seinem Herzen, „da lachen sie: sie verstehen mich nicht, ich bin nicht der Mund für diese Ohren. – Muss man ihnen erst die Ohren zerschlagen, dass sie lernen mit den Augen zu hören? Muss man rasseln gleich Pauken und Bußpredigern? Oder glauben sie nur dem Stammelnden?“

Asis „hört“ mit dem ganzen Leib. In seiner Oper verdichten sich brachiale Frequenzen zu marsyalischer Musik. Roes entwirft eine gebärdische Poetik des Schreckens, bringt das mythische Material wieder „auf Sendung“. Der Roman führt in Urszenen des Erzählens und Ergriffenseins.

Die abschüssige Fahrradfahrt am Emmaus-Tag erzählt den Osterspaziergang einer Zeit auf der Kippe, nicht „vom Eise befreit“, noch ohne Hoffnungsglück, gäbe es nicht den polnischen Freund Rafal, der ihn nicht aufgibt. Im Roman erklingt zugleich ein Hohngesang auf das Gerede vom „arabischen Frühling“. Roes erzählt ihn lakonisch gehärtet, gewitzt und erbittert – in Chats zwischen Asis und seinem Freund Said, der im amerikanischen Bridgeport ein Internetcafé betreibt, im kalt beschriebenen Sex mit der autistischen Czeska, einer Filmrestauratorin, die jedes Mal erst die Stoßkanten der Tapeten durchzählen muss, ehe sie zu ihm ins Bett steigen kann, in dem sie später Abfallschnipsel der von ihr restaurierten Filme ansehen.

Michael Roes hat mit diesem Roman seinen „Doktor Faustus“ vorgelegt, eine Künstlerbiografie, deren Voraussetzungen so unwahrscheinlich klingen, dass sie am Ende zwingend werden. Asis ist ein jemenitischer Nachfahre Adrian Leverkühns. Dass er dieses Mal aus der arabischen Halbinsel zu uns findet, begründet die Hoffnung, dass der Roman eines Tages auch dort zu lesen sein wird.

Michael Roes: „Die Laute“. Matthes & Seitz, Berlin 2012, 526 Seiten, 24,90 Euro