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Archiv-Artikel

Braucht die Türkei Europa?Ja

HEGEMONIE Nächste Woche kommt der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan nach Berlin – als der Vertreter einer regionalen Großmacht. Selbstbewusst und eigenständig

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Stefan Füle, 50, verhandelt als EU-Erweiterungskommissar mit Beitrittskandidaten

Ob die Türkei die Europäische Union braucht, ist die falsche Frage. Die richtige Frage ist, ob die Türkei und die EU einander brauchen. Die Antwort ist ein klares Ja. Die EU muss der Maßstab für den Reformprozess in der Türkei bleiben. Es ist im Interesse der Türkei und der EU, dass die Beitrittsverhandlungen neuen Schwung bekommen – um die Türkei auf dem Weg zu einem modernen, säkularen Staat zu unterstützen, der sich für Demokratie, europäische Werte und Menschenrechte einsetzt. Die Entwicklungen in unserer Nachbarschaft, besonders in Syrien, zeigen die wichtige Rolle der Türkei für die europäische Außenpolitik und die Energiesicherheit. Die EU ist zugleich der Haupthandelspartner der Türkei – etwa 42 Prozent des türkischen Handels läuft über die EU und 75 Prozent der ausländischen Direktinvestitionen. Kurz gesagt: Die Beziehungen zwischen Türkei und EU können nicht darauf reduziert werden, wer den anderen nötiger hat.

Cem Özdemir, 46, Grünenvorsitzender, engagiert sich für einen EU-Beitritt der Türkei

Wenn die EU-Kommission in ihrem Türkeibericht die Lage der Grund- und Menschenrechte kritisiert, dann hat sie damit völlig Recht. Es ist inakzeptabel, dass türkische Gerichte die Gesetze zunehmend missbrauchen, um die Meinungs- und Pressefreiheit zu beschränken. Es kann jedoch nicht bestritten werden, dass der Beitrittsprozess den wirksamsten Rahmen für die Umsetzung EU-bezogener Reformen und damit einer demokratisch-rechtsstaatlichen Entwicklung darstellt. Dieser ist auch Voraussetzung für den wirtschaftlichen Erfolg der Türkei. Die Kanzlerin und ihr unsichtbarer Außenminister haben mit ihrer Verzögerungstaktik zum Stocken der offiziellen Beitrittsverhandlungen beigetragen. Die Eurokrise und die Spannungen im Nahen Osten zeigen, dass eine demokratische, wirtschaftlich aufstrebende Türkei mit einer europäisch ausgerichteten Außen- und Sicherheitspolitik ein wertvolles Mitglied der EU sein kann.

Dagmar Roth-Behrendt, 59, SPD, ist Abgeordnete im Europaparlament

Die Türkei braucht Europa, um ihre Demokratisierung voranzutreiben. Auch wenn es beim Minderheitenschutz und in der Zypern-Frage noch Defizite gibt – allein die Beitrittsperspektive zur EU hat bereits einen enormen Demokratisierungsschub ausgelöst. Die EU ist das erfolgreichste Friedens- und Demokratieprojekt, das zu Recht mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde. Viele Mitgliedstaaten, in denen früher demokratische Strukturen nicht selbstverständlich waren, sind zu vollwertigen Demokratien geworden. Dies ist kein leichter Entwicklungsprozess und es gibt immer wieder Rückschläge, doch dürfen wir das Ziel nicht aus den Augen verlieren. Das Ziel muss sein: der Schutz von Menschenrechten und Minderheiten, rechtsstaatliche Regeln und die Unabhängigkeit der Justiz. Diese Werte sind auch die Bedingungen für einen Beitritt zur Europäischen Union und bedeuten immer einen essentiellen Vorteil für alle Menschen, auch in der Türkei.

Michael Seibold, 39, Diplom-Kaufmann, hat die Frage auf Facebook beantwortet

Sicherlich und natürlich! Und Europa braucht die Türkei. So wie Deutschland Frankreich, Frankreich Europa und die Welt Europa braucht. Nicht erst mit der Globalisierung ist jeder Staat wie in einem Ökosystem unausweichlich mit allen anderen verbunden. Wer den Türken Europa verwehren will, sollte sich die Folgen klarmachen: Erst die Ausgrenzung führt zu Unkenntnis über das Abendland und seine so andere und westlich aufgeklärte Kultur. Gerade das bereitet den Boden für Islamisierung auf der dann anderen Seite, und Radikale können wohlfeil gegen Europa hetzen.

Nein

Aylin Selçuk, 23, gründete „DeuKische Generation e. V.“ für deutsch-türkische Jugendliche

Jedes Jahr reise ich mit meiner Familie in die Türkei. Früher sind wir mit vollen Koffern hin und mit halbleeren zurück. Wir brachten unseren Verwandten und Freunden Geschenke aus Deutschland: Schokolade, Kaffee, Kleidung… Heute haben diese Geschenke nicht mehr viel Wert. Mittlerweile gibt es in der Türkei alles, was es in Europa gibt. Man hat sogar noch viel mehr Auswahl. Wer heute reist, der reist mit halbleerem Koffer hin und kommt mit vollem Koffer zurück. Die Wirtschaft boomt, das Bruttoinlandsprodukt steigt, die Menschen sind jung. Das Streben nach Europa liegt für die Türken in der Vergangenheit. Als „Deutschländer“ wurde man früher beneidet, heute eher bemitleidet. Für viele Europäer ist Berlin eine Metropole. Doch wenn man erst einmal in Istanbul war, erscheint Berlin eher kleinstädtisch.

Klaus Kreiser, 67, ist emeritierter Professor für Turkologie und Buchautor

Nicht zwingend. Für die Euroskeptiker in der Türkei ist nach den mehr oder weniger beherzten Reformen der Jahre 2002 bis 2005 der Sättigungsgrad an Bevormundung und Zurückweisung durch „Europa“ erreicht – trotz weiterbestehender demokratischer Defizite, wie fehlender Religionsfreiheit für nichtsunnitische Gemeinschaften. Maßnahmen, die den Spielraum der Militärführung einengten, und die „kurdische Öffnung“ kamen allerdings ohne Druck aus „Europa“ zustande. Kein türkisches Parlament wird Souveränitätsrechte abgeben, die mit einer Vollmitgliedschaft in der EU verbunden wären. Die Beziehungen zu den Staaten der Union versprechen aber auch außerhalb der EU einen „Wandel durch Annäherung“ der Türkei an europäische Normen und Institutionen.

Sevim Dagdelen, 37, Linkspartei, sitzt im Auswärtigen Ausschuss des Bundestages

Braucht diese Türkei diese EU? Nein! Denn offenbar hat sich die AKP-Regierung im EU-Beitrittsprozess gut eingerichtet. Statt des angeblichen Demokratisierungseffekts, den er haben sollte, sitzen mittlerweile über 10.000 Oppositionelle und 100 Journalisten in Haft. Braucht diese EU diese Türkei? Nein! Denn ihr Führungspersonal ist ausschließlich darauf aus, die Türkei als Markt und geopolitisches Standbein im Nahen Osten zu etablieren. Braucht eine andere EU eine andere Türkei? Ja! Denn dann könnte das Versprechen eines sozialen, demokratischen und friedlichen Europas wirklich an Kraft gewinnen. Dazu muss die EU aber ihre Verträge ändern. Braucht eine andere Türkei eine andere EU? Ja! Denn dann gäbe es keinen positiven EU-Bezug als Schmiermittel für Privatisierungen und Angriffe auf Gewerkschaftsrechte.

Gregor Holek, 40, ist Schwellenländerex-perte bei Raiffeisen Capital Management

Wirtschaftlich gesehen sind die Vorteile eines EU-Beitritts für die Türkei überschaubar. Die Türkei ist seit 1995 in einer Zollunion mit der EU – Güter und Dienstleistungen sind ohne Beschränkung handelbar. Hier gibt es also nichts zu gewinnen. Das gilt auch für Direktinvestitionen aus der Europäischen Union. Wiewohl 70 Prozent der sogenannten FDIs, also Foreign Direct Investments, aus der EU kommen, würde sich bei einem Beitritt hier nicht viel ändern. Die Entscheidung, in der Türkei zu investieren, hängt von den vergleichsweise billigen und sehr gut ausgebildeten Arbeitskräften und dem großen Heimatmarkt ab. Im Zuge des anhaltenden Wirtschaftsbooms im Land und der Wachstumsschwäche in Europa hat die Türkei ihre Exporte diversifiziert. Gingen noch vor wenigen Jahren deutlich mehr als die Hälfte der Exporte in die EU, stehen wir heute bei knapp 34 Prozent. Neue Exportdestinationen, vor allem im Mittleren Osten, haben kräftig zugelegt. Die Abhängigkeit von Europa hat deutlich abgenommen.