: Besser, der Angeklagte kooperiert
Der Angeklagte Radovan Karadzic will sich selbst verteidigen. Welche Vorteile verspricht er sich davon? Wie sehr steht das internationale Gericht unter Zeitdruck? Sieben Fragen und Antworten zum Prozess
1. Warum wollte Karadzic bislang nicht vor Gericht erscheinen?
Er sagt, er habe nicht genug Zeit gehabt, sich auf den Prozess vorzubereiten. Er fordert eine Verschiebung des Prozessbeginns um bis zu acht Monate. Karadzic ist im Juli 2008 verhaftet worden und behauptet nun, die Akten zu seinem Prozess umfassten mehr als eine Million Seiten. Der Gerichtshof macht keine Angaben zum Umfang der Akten.
2. Hat Karadzic Unterstützung?
Er macht von seinem Recht Gebrauch, sich selbst zu verteidigen. Das ist für ihn interessant, weil er auf diese Weise Zeugen selbst befragen kann. Wenn er einen Anwalt hätte, dürfte nach den Regeln des Gerichtshofs nur der Anwalt die Zeugen befragen. Karadzic ist aber nicht allein auf sich gestellt, sondern hat ein Unterstützerteam, das auf Stundenbasis vom Gerichtshof bezahlt wird. Dazu gehören ein Fallmanager, ein Rechercheur, ein Übersetzer und acht Rechtsexperten. Außerdem arbeitet noch eine größere Anzahl internationaler Juristen ohne Bezahlung mit Karadzic zusammen. Das sind nicht nur Gesinnungsgenossen, sondern auch Anwälte und Wissenschaftler, die den Fall interessant finden.
3. Kann der Prozess ohne Karadzic fortgeführt werden?
Sobald die Verlesung der Eröffnungserklärungen abgeschlossen ist und die Beweisaufnahme beginnt, muss Karadzic anwesend oder zumindest durch einen Anwalt vertreten sein. Das Gericht hat angedroht, einen Pflichtverteidiger für Karadzic zu bestellen, wenn er weiter der Verhandlung fernbleibt. Dann müsste der Prozess allerdings mehrere Monate unterbrochen werden, bis der Pflichtverteidiger eingearbeitet ist.
4. Warum hat das Gericht nicht sicherheitshalber einen Anwalt beauftragt, sich vorzubereiten und bereitzuhalten?
Bisher hat Karadzic kooperiert, und das Gericht wollte ihn nicht provozieren. Deshalb wurde auch nicht erwogen, Karadzic gewaltsam aus seiner Zelle in den Gerichtssaal zu holen. Das Gericht geht davon aus, dass es den Prozess mit einem kooperierenden Angeklagten deutlich schneller abschließen kann.
5. Warum steht der Gerichtshof so unter Zeitdruck?
Der Gerichtshof für Exjugoslawien ist – anders als der neue Internationale Strafgerichtshof – keine dauerhafte Einrichtung. Eigentlich sollten die betreffenden Verfahren (in erster Instanz) bis Ende 2008 abgeschlossen sein. Dann aber wurde Karadzic verhaftet und niemand hätte es gewagt, den Gerichtshof vor diesem Prozess abzuwickeln. Nun erwartet die UN ein zügiges Verfahren. Die Finanzierung des Gerichtshofs ist bis Ende 2011 gesichert.
6. Ist die Anklage gegen Karadzic zu umfangreich?
Karadzic werden vor allem vier Tatkomplexe zur Last gelegt: 1. die Deportation, Misshandlung, Vergewaltigung und Tötung von bosnischen Muslimen und Kroaten in zahlreichen Internierungslagern, insbesondere im Sommer 1992; 2. die Terrorisierung der Bevölkerung von Sarajevo mithilfe von Artillerie und Scharfschützen von 1992 bis 1996; 3. die Geiselnahme von mehr als 200 UN-Blauhelmen und Militärbeobachtern an verschiedenen Orten im Mai/Juni 1995; und 4. die Tötung von tausenden bosnischer Muslime in und um die belagerte Muslim-Exklave Srebrenica im Juli 1995. Um das Verfahren abzukürzen, hat man in Den Haag diskutiert, den Srebrenica-Komplex wegzulassen. Aber das war den Angehörigen der Opfer nicht zuzumuten.
7. Die Prozesse gegen die zwanzig NS-Hauptkriegsverbrecher im Jahr 1945/46 dauerten nicht einmal ein Jahr. Warum ging es damals so viel schneller?
Es war eine äußerst fortschrittliche Idee überhaupt, gegen die Machthaber eines besiegten Unrechtsregimes einen rechtsstaatlichen Prozess durchzuführen. Heute achtet man aber viel mehr auf eine faire Ausgestaltung des Verfahrens, das nicht wie eine Siegerjustiz wirken soll. Die UN hoffen, dass der Aufwand sich lohnt und das Urteil auch in der Region akzeptiert wird. Es soll langfristig den Frieden auf dem Balkan stabilisieren.
CHRISTIAN RATH