: Die Welt als Road Trip
Das gewisse Etwas in der Fotografie: Mit seiner für den NBK kuratierten Ausstellung spürt der Kritiker Ulf Erdmann Ziegler der „fotografischen Familie“ nach, bei c/o Berlin sind die vier Finalisten des Deutsche Börse Photography Prize 2005 zu sehen
von HARALD FRICKE
Einen Kampf hat die Fotografie sicher gewonnen: Aus dem Museum sind die Arbeiten von Andreas Gursky, Cindy Sherman oder Bernd & Hilla Becher nicht mehr wegzudenken. Insofern ist das erstmals mit dutzendweise Events stattfindende Berlin Photography Festival ein Triumph der Institutionalisierbarkeit, während der Markt sich wieder an Malerei orientiert. Ulf Erdmann Ziegler hat die Ermüdung vorhergesehen, ihm war die Spezialisierung auf Fotos in den Neunzigerjahren, wie sie von Galerien und Sammlungen betrieben wurde, ohnehin suspekt: „Wer sich auf das ,Medium‘ der Fotografie kapriziert, sitzt letztlich ihrer Technik auf“, schreibt er im Katalog der von ihm für den Neuen Berliner Kunstverein kuratierten Ausstellung, „und da wird es dann wirklich öde.“
Dagegen baut Ziegler auf das Potenzial der „fotografischen Familie“, wie er seine Auswahl betitelt hat. Denn bei Jenö Gindl, Peter Hendricks, Reinhard Matz und Anne Noble stehen familiäre Beziehungen im Zentrum der Arbeit – als konkretes Thema und Sinnbild der eigenen künstlerischen Praxis. So komponiert Matz das Spielzeug seiner Tochter zu Stillleben, die Edward Steichens berühmtes „First Picture Book“ zitieren. Selbst der technische Fortschritt wird mitreflektiert: Aus Steichens schwarzweißen Nahaufnahmen von Bällen und anderen „Everyday Things for Babies“ sind coole Dialeuchtkästen mit poppigen Plastikpuppen geworden, die Matz am Computer feingeschliffen hat.
Nebenan weisen Anne Nobles Serien die neuseeländische Fotografin als Bindeglied innerhalb ihrer Familie aus. In einem Raum des NBK nimmt sie Abschied vom toten Vater mit schwarzweißen Close-ups seines welken Körpers; schräg gegenüber hängen farblich verfremdete Großaufnahmen von Mündern, auf denen ihre eigene Tochter die Mutter mit obszönen Gesten provoziert. Bei Peter Hendricks gibt es zu Tafeln montierte Reportagefotos aus dem Sudan oder der Türkei, die sich mit intimen Blicken auf den im Garten planschenden Sohn mischen. Die Unschärfe ist gewollt, als Ergebnis einer Miniatur-Minox, mit der Hendricks an die Flüchtigkeit von Knipserfotos anknüpft. Schließlich wird man bei Jenö Gindl auf den Pfad der Inszenierung geschickt. Seine fünfteilige Reihe „Aufprall“ erinnert an Filmstills: Mann und Frau schauen starr aus dem Fenster eines Autos, Kinder springen ins Wasser – schon scheint sich für den Betrachter ein Truffaut-Drama um Liebe, Verlust und letzte Bilder abzuspielen.
Kein Zweifel, Ziegler hat ein Auge für bildnerisch dichte Erzählungen. Als Kritiker ist er auf der Suche nach Fotografien, die die individuelle Handschrift eines Autors tragen, besser noch: Werkcharakter besitzen. Dabei hat ihn der Hype etwa um Rineke Dijkstra oder Wolfgang Tillmans zwar auch interessiert; mehr noch ist er aber auf eine oft unterschwellige Tradition aus, die weit von den Dienstleistungen des Bildjournalismus und vom überambitionierten Kunstwollen entfernt bleibt. Larry Clark hat dieses gewisse Etwas, Thomas Struth eher nicht. Im NBK sind es die unterschiedlichen visuellen Konzepte beim Umgang mit Familie, durch die Ziegler eine gemeinsame Erfahrung sichtbar macht: Nichts prägt die Fotografien des Alltags so sehr wie der Alltag des Fotografen.
So viel Genauigkeit und gedankliche Schärfe hätte man gerne auch vom Deutsche Börse Photography Prize 2005 erwartet. Immerhin ist die mit 30.000 Pfund dotierte Auszeichnung an ein abgeschlossenes fotografisches Projekt gebunden – egal ob Ausstellung oder Publikation. Dieses Jahr wurden Luc Delahaye, JH Engström, Jörg Sasse und Stephen Shore nominiert, das ist eine recht beliebige Auswahl, bei der Fotografie lediglich als Sammelbegriff für kaum verwandte Bildsprachen dient: von Historienmalerei mit der Weitwinkelkamera bis zum digital verfremdeten Fundfoto. Stephen Shore soll für seine Pionierarbeit der „Uncommon Places“ aus den frühen Siebzigerjahren gewürdigt werden, weil er damals die US-amerikanische Lebenswirklichkeit im Niemandsland des mittleren Westens aufgezeichnet hatte. Dagegen zählt bei den „Tableaux“ des 15 Jahre jüngeren Becher-Schülers Jörg Sasse der Prozess, mit dem er Fotos von anonymen Amateuren künstlerisch neu komponiert.
Schnell sind alte Konflikte ausgemacht: Serie oder Einzelbild? Inszenierung versus Authentizität? Doch die Ausstellung sucht gar nicht erst nach einer Vermittlung der Positionen, belässt es bei der Aneinanderreihung. Engström zeigt Porträts von Freunden, die er mit überbelichteten Landschaften kombiniert. In Buchform würde man die Abfolge wohl assoziativ als Road Trip lesen, bei c/o Berlin sind die Bilder aber in braune Rahmen eingefasst und wie pathetische Trophäen aus dem Privatleben gehängt.
Gleich daneben trifft man auf die Panoramafotos des Gewinners, Luc Delahaye. Kein Buch, keine Serie, sondern eine Methode der Weltanschauung wurde hier ausgezeichnet: Der 1962 geborene Franzose nutzt das Monumentalformat, um Kriegsschauplätze und Krisengebiete im Bild festzuhalten. Es sind gefrorene Szenen nach Art eines malerischen Klassizismus aus dem 19. Jahrhundert. Im palästinensischen Flüchtlingscamp grenzt Delahaye die zerbombte Siedlung mit dekorativ fallenden Schatten ein; bei einer Beerdigung in Afrika sieht er im Pulk der Trauernden lediglich ein Ornament aus dunkelhäutigen Körpern; und in Baghdad hat er genau in dem Moment auf den Auslöser gedrückt, als der Bombenrauch und das Chaos auf der Straße eine harmonische Einheit mit der in Schutt gelegten Architektur bildeten. Delahaye sucht die Totale, um Überblick im unsicheren Zeitgeschehen zu schaffen. Das Ergebnis ist eine entrückte Fotografie, die dem Betrachter ein aus den Fugen geratenes Welttheater vorführt. Demnächst wird es im Museum zu sehen sein, ganz bestimmt.
Critic’s Choice – Die fotografische Familie, bis 16. 10., Neuer Berliner Kunstverein, Chausseestr. 128/129Deutsche Börse Photography Prize 2005, bis 2. 10., Linienstr. 144