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Archiv-Artikel

Zehn Leute in der Halbtotalen

MELODRAMEN AUS MANILA Gestern ging das Wiener Filmfestival Viennale zu Ende. Besonders sehenswert war ein Filmprogramm zu Ehren des philippinischen Regisseurs Lino Brocka

Brocka filmt die Slums von Manila ohne Scheu und ohne Voyeurismus

VON CRISTINA NORD

Ein Melodram ohne Mutter ist wie ein Motor ohne Treibstoff. Das Genre braucht die Energie überschießender Gefühle, und woher wäre diese Energie besser zu beziehen als aus der Darstellung einer Mutter-Kind-Beziehung, die aus den Fugen gerät? Weil mütterliche Liebe als unverbrüchlich gilt, sticht jede Störung umso stärker hervor. Ein Filmemacher, der diese Liebe porös werden lässt, muss nur wenig zuspitzen, damit vor den Augen des Publikums das Inbild menschlicher Niedertracht entsteht.

Lino Brocka schätzte das dramatische Potenzial problematischer Mutterliebe so sehr, dass er schon seinen ersten, 1970 gedrehten Film „Wanted: Perfect Mother“ nannte. Das Wiener Filmfestival Viennale widmete dem großen philippinischen Regisseur, der 1991 im Alter von 52 Jahren bei einem Autounfall ums Leben kam, jetzt eines seiner „Tributes“. Dabei ließ sich gut beobachten, wie gern Brocka seine Melodramen auf gestörten Mutter-Kind-Beziehungen aufbaute. In „Stardoom“ (1971) zum Beispiel lenkt eine Mutter ihren Ehrgeiz auf den Sohn, nachdem das eigene Leben ihr nichts als Enttäuschungen beschert hat. Partout soll der Teenager eine Karriere im Show-Geschäft machen, sie schleppt ihn von Casting zu Casting, bis alles Menschliche unter pfauenbunten Hemden und Lacklederwesten verkümmert ist. Im halblangen Film „Morgen, die Finsternis“, Teil der Trilogie „Tatlo, Dalawa, Isa“ („Drei, zwei, eins“, 1974), macht die bettlägrige Mutter die erwachsene Tochter zur Krankenschwester und unterdrückt jede selbständige Regung, bis die Entmündigte nurmehr „Stirb!“ ins Ohr der Kranken zischen kann. In „Insiang“ (1976), dem ersten Film aus den Philippinen, der je am Festival von Cannes teilnahm, wird die etwa 17 Jahre alte Protagonistin Insiang (Hilda Koronel) von ihrer Mutter Tonia (Mona Lisa) wie eine Magd behandelt. Die Lage spitzt sich zu, als Dado (Ruel Vernal), der jüngere Liebhaber der Mutter, in die bescheidene Behausung einzieht und keinen Hehl daraus macht, dass er ein Auge auf Insiang wirft. Der Film beginnt mit einer spektakulären Szene, in der Dado ein Schwein schlachtet, mehrmals sieht man, wie das Messer in die Kehle des Tiers sticht. Ein Echo darauf findet sich im letzten Viertel von „Insiang“: Nun ist es Dado, der unter den Stichen eines Messers zusammenbricht. Die Bluttat erscheint als einzig mögliche Reaktion auf all die Bosheit, die der Film vor den Augen des Publikums ausbreitet. Katharsis hat hier keinen Platz.

Die melodramatische Verdichtung allein macht das Oeuvre Brockas noch nicht bemerkenswert, dazu siedeln die Konflikte bisweilen doch zu nah an der Telenovela. Zur Entdeckung werden die Filme, weil sie den Gefühlsüberschuss des Melodrams mit einem genauen Blick auf die philippinischen Lebensverhältnisse verbinden. Brocka filmt die Slums von Manila ohne Scheu und ohne Voyeurismus. In Halbtotalen, in denen das europäische Auge drei Figuren erwartet, drängen sich bei Brocka zehn und mehr Menschen. Oft verharrt die Kamera bei den arbeitslosen jungen Männern, die mit nackten Oberkörpern herumsitzen, trinken und aus dem Fortgang der Handlung genauso herausfallen wie aus der Wertschöpfungskette. Dann wieder sieht man, wie die Figuren sich um einen Wasserhahn drängen, wie sie Kanister schleppen, wie sie über einem Loch im Küchenboden urinieren oder mit bloßen Füßen durch dubiose Wasserlachen waten.

In einem Interview aus dem Jahr 1991 erzählte Brocka, wie Imelda Marcos ihm einmal ihre Vorstellung von Kino beibringen wollte. Sie verlangte ein Kino, das der Stiftung nationaler Identität dient. „Wenn Sie einen Hollywood-Film sehen, wollen Sie Amerikaner werden. Warum? Weil ein Lebensstil gezeigt wird, nach dem auch Sie verlangen“, soll sie zu Brocka gesagt und hinzugefügt haben: „Warum können wir das nicht umkehren und Filme machen, die bei den Amerikanern den Wunsch auslösen, Philippiner zu werden?“ Gegen den Wunsch nach geschönten Bildern setzte Brocka einen anderen: Filme zu drehen, die beim philippinischen Publikum keine Minderwertigkeitskomplexe auslösen, da sie niemanden dazu bringen, sich seiner Hautfarbe, seiner Armut, seiner Lebensweise zu schämen. Aus diesem Antrieb heraus schuf er (der übrigens aus seinem Schwulsein nie ein Hehl machte), eine berückende Mischung aus populärer Form, politischem Anspruch und exaltiertem Experiment.

Er trat dabei weniger kämpferisch auf als Glauber Rocha oder Ousmane Sembene, die Programmatiker des Dritten Kinos, stellte jedoch zwischen 1970 und 1991 mehr als 60 Filme fertig. In Wien war eine kleine Auswahl zu sehen, zusammengestellt von den jüngeren philippinischen Regisseuren Lav Diaz, Khavn De La Cruz und Raya Martin sowie von Brockas Weggefährten Kidlat Tahimik. Sie rief etwas ins Bewusstsein, was heute kaum vorstellbar scheint: Vor 30 Jahren gab es auf den Philippinen eine Filmindustrie, die aus sich selbst heraus prosperierte. Heute entstehen zwar – auch mit Hilfe von europäischem Fördergeld – herausragende Filme, aber sie finden ihr Publikum weniger in den Kinosälen Manilas als unter den cinephilen Festivalbesuchern in Wien, Venedig oder Rotterdam. Ein Tribut anderer Art.