: Europa macht Niederländisch attraktiver
Niederländisch macht Schule. Während an Hollands Lehranstalten der Deutschunterricht keine große Rolle mehr spielt, lernen in NRW mehr als 12.000 Schüler und Schülerinnen Niederländisch. Ein mit EU-Mitteln gefördertes Lehrbuch für die Sekundarstufe I, das die kommunikativen Fähigkeiten schult, hilft dabei, sich fürs Studium im Nachbarland oder einen Job in der Euregio zu empfehlen
AUS VOERDE HENK RAIJER
Die Kaderschmiede liegt fünf Kilometer vom Stadtzentrum entfernt. Vier, fünf Gebäude, ein Sportplatz und ein Hallenbad zählt die Schule, die hier 1968 auf die Wiese gesetzt wurde. Busse fahren eher selten in Voerde-Friedrichsfeld, nur zur ersten und letzten Unterrichtsstunde verdichtet sich der Takt. Günter Bongert arbeitet seit dreißig Jahren am Gymnasium der Flächenstadt Voerde unweit des Rheins, der nur wenige Kilometer stromabwärts das Land verlässt und bis zur Mündung durch die Niederlande fließt. Holland hat den gebürtigen Niederrheiner immer angezogen. Jedoch lernte Bongert anders als die meisten seiner Generation, die es hinnahm, dass Holländer wie selbstverständlich Deutsch sprachen, peu à peu Niederländisch – und machte vor zwei Jahren sogar einen Beruf daraus.
Seit 1975 unterrichtet der groß gewachsene, sportliche Mittfünfziger am Gymnasium der 38.000-Einwohner-Stadt am Niederrhein Englisch und Geschichte, mit dem Schuljahr 2003/04 kam Niederländisch hinzu. Bongert führt das nicht nur auf seine persönliche Affinität zum Nachbarland und seinen Bewohnern zurück. „Seit Jahren wächst in Deutschland die Zahl der Niederländisch lernenden Schüler, vor allem in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen“, sagt Bongert. „Und das hat nicht zuletzt mit der zunehmenden grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in der Region und den Anforderungen zu tun, die Jugendlichen daraus erwachsen.“ Er selbst ergriff die Chance, die ihm die Bezirksregierung Münster bot, und besuchte einen mit EU-Mitteln geförderten Zertifikatskurs. Der erfolgreiche Abschluss berechtigt ihn heute, in der 9. und 10. Klasse seines Gymnasiums Niederländisch als Wahlpflichtfach zu unterrichten.
Sprache und Wirtschaft
Interreg nennt sich das Programm, mit dem die Europäische Union seit 1991 die räumliche, wirtschaftliche und sozialkulturelle Entwicklung der strukturschwachen Grenzregion vorantreibt (siehe Kasten rechts). Finanziert wird die EU-Initiative aus Mitteln des Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE). Interreg I förderte bis 1995 die Schaffung von mehreren hundert Arbeitsplätzen, Interreg II (1995-2001) zeitigte mit rund 1.000 neuen Jobs ebenfalls positive Effekte auf dem Arbeitsmarkt beidseits der Grenze. Interreg IIIa unterstützt bis 2008 mit einem Gesamtinvestitionsvolumen von über 100 Millionen Euro 81 Projekte unter anderem in den Bereichen Technologie, Tourismus, Arbeitsmarkt/Qualifizierung, Umwelt und soziale Netzwerke. Regelmäßig prüft der Interreg-Lenkungsausschuss, in dem die Geld gebenden Instanzen vertreten sind (siehe Kasten unten), ob es mit einem Projekt auch wirklich vorangeht. „Wenn wir merken, dass es mit der Kommunikation nicht klappt oder es bei der Umsetzung der Vorgaben hapert, sorgen wir dafür, dass das Projekt wieder aufs richtige Gleis kommt“, sagt Christoph Bönig, Öffentlichkeitsreferent bei der Euregio in Gronau. „Bislang hatten wir aber noch keinen Fall, wo ein Projekt komplett den Bach runter gegangen wäre.“
Da werden Feuerwehren und Opferhilfe kombiniert, das grenzüberschreitende Gesundheitswesen optimiert oder im Tierseuchenzentrum Forschung und Prophylaxe koordiniert. Gewerbegebiete werden zusammengelegt, Suchthilfe- und Selbsthilfeverbände arbeiten eng zusammen, gemeinsame Ausstellungen zu Integration und Fremdenhass werden konzipiert. Auch die Berufsinformation ist grenzenlos, Auszubildende gehen zum Austausch ins Nachbarland, Polizisten werden in gemeinsamen Übungen für die Fußball-WM 2006 geschult.
Nun müssen die beteiligten Personen einander ja erst einmal verstehen lernen. Fördermittel gibt es daher aus dem Interreg-IIIa-Topf auch für das Erlernen der Nachbarsprache. Einige Wochen vor Schulbeginn in NRW brachte der Max Hueber Verlag den zweiten Band des Niederländisch-Lehrbuchs „Taal vitaal op school“ heraus.
Partnerschaftlich lernen
Die Erstellung des Lehrwerks wurde im Rahmen der Gemeinschaftsinitiative Interreg IIIa finanziell gefördert durch die EU, die Wirtschaftsministerien der Länder NRW und Niedersachsen sowie durch die „Nederlandse Taalunie“. Die Ausgabe umfasst ein Lehrbuch, ein Arbeitsbuch und eine CD mit Dialogen und Hörverständnisübungen. Damit ist das Lehrmaterial für den Niederländisch-Unterricht in der Sekundarstufe I komplett. „Taal vitaal op school 2“ behandelt Themenkreise wie Presse und Journalismus, Hollands Kolonialgeschichte sowie Literatur und Multikulturalität. Auch enthält das Buch Texte über Wohnen, Freizeitgestaltung oder etwa Essgewohnheiten der Flamen und fördert stärker noch als der erste Band die Fähigkeiten im Lesen und Schreiben der Fremdsprache.
Insgesamt 12.367 Schülerinnen und Schüler lernten in NRW im Schuljahr 2004/2005 an Gymnasien, Gesamtschulen, Real- und Hauptschulen Niederländisch, an Gymnasien und Gesamtschulen sind es im laufenden Jahr insgesamt 6.020 Schüler, davon allein 4.035 in der Sekundarstufe II. „‚Taal vitaal op school‘ übt wie kein anderes Lehrbuch zuvor das gesprochene Niederländisch ein“, lobt Günter Bongert die Ausgabe, die besser als frühere Sprachkurse den Anforderungen der geltenden Lehrpläne und -ziele entspreche. „Aufgaben und Übungen sind auf die Entwicklung der kommunikativen Fähigkeiten ausgelegt und unterstützen das selbstständige und partnerschaftliche Lernen“, erklärt Bongert die Vorzüge der Bände für sich und seine Schüler am Gymnasium Voerde.
Eindeutig profitiert haben von dieser Methodik die knapp 20 Schülerinnen und Schüler der 10. Klasse, die jetzt im zweiten Jahr bei ihrem Geschichtslehrer auch Niederländisch lernen. Marie und Stephanie führen ein Verkaufsgespräch, dessen Verlauf sie zuvor dem Ghettoblaster in einer Fensterecke des Klassenraums entnommen haben. Gekonnt locker gehen die beiden 15-Jährigen auf Fragen und Antworten der jeweils anderen ein, bewältigen sogar die Tücken der niederländischen Modulation ohne große Probleme.
Zertifikat fürs Studium
Sichtlich stolz auf seine Elevinnen berichtet Bongert, dass für die 10. Klasse eine Doppelstunde und zwei Einzelstunden pro Woche auf dem Lehrplan stehen. „Das bedeutet eine Wochenstunde mehr, als etwa die Schüler mit dem Wahlpflichtfach Wirtschaft haben“, erzählt er. „Meine Schüler haben von Anfang an richtig gut gearbeitet, den ersten Band hatten wir schon Wochen vor den Sommerferien durch.“
Während in den Niederlanden kaum noch Schüler obligatorisch Deutsch lernen, ja dies zum Teil sogar ablehnen und sich ausschließlich auf Englisch konzentrieren, bedauern auf deutscher Seite die meisten in der 10. Klasse des Gymnasiums Voerde, dass ihr Sprachkurs in der Oberstufe nicht fortgeführt wird. Niederländisch sei leichter zu erlernen als etwa Französisch, meint Marie (15), die in den Ferien in Eigenregie per E-Mail eine Gruppenfahrt nach Holland organisiert hat. „Das ist so eine Art Würfelpackung aus verschiedenen Sprachen, da fühlt man sich schneller sicher.“ Alexandra, die hellen Haare zu einem Dutt hochgesteckt, findet es „schade, dass es bei uns in der 11. nicht weiter geht. Ich könnte mir gut vorstellen, nach dem Abi in Holland zu studieren.“
Günter Bongert möchte an seiner Schule für die Sek II eine AG einrichten, um Sprachkenntnisse zu vertiefen und Schülern, die ein Zertifikat erwerben wollen, zu unterstützen. „Schon heute studieren an allen Unis und Fachhochschulen drüben jede Menge junger Leute aus NRW, die bei uns wegen des Numerus Clausus‘ durchs Raster fallen“, so Bongert. „Wer da ein Zertikat Niederländisch vorweisen kann, hat beste Chancen.“ Das gelte auch für eine berufliche Zukunft in der Euregio. Die 15-jährige Lea würde die zusätzliche Belastung auf sich nehmen, „einfach nur, um später die Wahl zu haben“.