piwik no script img

Archiv-Artikel

„Doktor Kirchhof und Mister Hyde“

Vergleiche zwischen der Union Angela Merkels und den Neocons in den USA hinken, sagt Norman Birnbaum. Einige Ideen der Marktliberalen in der Union hatte die Bush-Regierung aber auch schon – und ist mit ihnen gescheitert

taz: Herr Birnbaum, im deutschen Wahlkampf greift die SPD Kirchhof als deutschen Neocon an. Taugt dieser Vergleich?

Norman Birnbaum: Der Neokonservativismus Amerikas ist nicht übertragbar auf Europa. Er resultiert aus einer tiefen Spaltung innerhalb der Demokratischen Partei in den 60er-Jahren. Dabei ging es außenpolitisch um die Themen Vietnamkrieg und Israel, innenpolitisch um Umverteilung zugunsten von armen Minderheiten und den Rechtsschutz für Frauen. Später gingen die Neokonservativen eine Allianz mit den Marktliberalen ein, und die amerikanische Imperialmacht wurde für sie zur Priorität. Diese ehemaligen Demokraten sind zu Republikanern geworden, jedenfalls die außerhalb der „New Democrats“ wie Senator Lieberman, die Republikaner in demokratischer Kleidung sind. Paul Kirchhof ist dagegen eher marktliberal, und mit den Ökonomen Friedrich von Hayek oder Milton Friedman zu vergleichen.

Sind die beiden Strömungen eng miteinander verwoben?

Nun, Marktliberale sind nicht notwendigerweise Befürworter traditioneller Familienpolitik, sie sind auch bereit, die Welt mit Marktmacht zu beherrschen und nicht mit militärischen Mitteln. Marktliberalismus ist weit verbreitet und hängt nicht unbedingt mit dem amerikanischen Imperialismus zusammen.

Kirchhof will aber nicht nur Steuern senken, er will auch die traditionelle Familie stärken …

Es gibt sicher Gemeinsamkeiten zwischen der CDU und amerikanischen Neokonservativen. Dazu gehört die Verteidigung vermeintlich abendländischer Werte. Außerdem sind einige CDU-Leute unwissend und naiv genug, um an die Möglichkeit einer amerikanischen Welthegemonie zu glauben, trotz unserer Niederlagen in Vietnam und jetzt im Irak. Die CDU ist aber wegen der tief gehenden Säkularisierung in Deutschland gehemmt, ein traditionalistisches Weltbild so offen zu propagieren wie unsere Neocons, die in ihrem Privat- und Familienleben übrigens oft auch sehr modern sind.

Könnte Kirchhof Republikaner sein?

Ich nehme an, Kirchhof wäre in Amerika wohl Republikaner mit seiner Einheitssteuer und dem Projekt, Renten zu privatisieren. Wohlgemerkt, Bush ist bis jetzt mit diesen Projekten gescheitert. Er hat es nur geschafft, die Steuern für Wohlhabende zu senken. Durch den Orkan „Katrina“ und seine Folgen könnte das jetzt ein Ende haben. Aber der Vergleich ist unangemessen. Die Geschichte und die historische Lage Amerikas und Deutschlands sind anders. Teile der CDU/CSU beziehen sich noch immer auf sozialchristliche Traditionen wie die solidarische Gesellschaft, korporative Strukturen und staatliche Lenkung, die in Amerika zu den linken Traditionen in der Demokratischen Partei gehören.

Bricht Kirchhof nicht genau mit diesen Traditionen?

Mit Kirchhof will die CDU unter Merkel mit der eigenen Tradition brechen. Die Neokonservativen aber beziehen sich auf eine amerikanische Linie, deren Wurzeln zurück ins 19. Jahrhundert gehen, das äußert sich in der rücksichtlosen Behandlung und sogar der Verhöhnung der Unterschichten und dem ständigen Appell an die nationale Solidarität für ein imperiales Projekt. Damals war das die Eroberung des Kontinents, heute ist es die Beibehaltung von Weltmacht, um unseren Lebensstandard zu sichern. Wenn die Union mit oder ohne Kirchhof die USA dabei unterstützt, würde die Partei auch mit der eigenen europäischen Seele brechen.

In einem Interview mit der Zeit hat Kirchhof sich als „Antikonservativen“ bezeichnet. Warum?

Kirchhof hat als Nestor begonnen und als Polonius oder sogar Professor Unrath geendet, was nicht sagen will, dass ich Frau Merkel mit Marlene Dietrich verwechsle. Das Zeit-Interview war so verschwommen, so ritualisiert im Ausdruck, dass niemand eine klare Idee von seinen Gedanken gewinnen konnte. Ich hatte den Eindruck, er verschweigt etwas. Ich frage mich, ob er nicht ein Traditionalist ist – vorwärts zur Epoche von Wilhelm II. Dagegen hat er von Freiheit geredet, von der Möglichkeit kultureller Selbstbestimmung, das klingt wie Doktor Kirchhof und Mister Hyde. Wenn er den Menschen Möglichkeiten zur Selbstentfaltung geben will, ist sein Angriff gegen den deutschen Sozialstaat der falsche Weg. Heute kann nur ein starker Sozialstaat der Bevölkerung Schutz gegen die Weltwirtschaft garantieren. Im Wahlkampf können Grüne und SPD deswegen Frau Merkels unfassbaren Entschluss, diese seltsame Figur vorzuschieben, als Gottesgeschenk betrachten.

INTERVIEW: DANIEL SCHULZ