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Archiv-Artikel

Wir sind schon immer Freunde gewesen

LABELPORTRÄT Hamburg gilt als unbequeme Rockstadt, hat aber auch eine eigenständige House-Szene. Ihr Aushängeschild Dial Records vereint Subkulturtraditionen und Stilwillen mit elektronischen Emotionen

Zum Dial-Kollektiv gehören auch Künstler. Ihre Arbeiten zieren die Plattencover

VON ALEXANDRA EUL

Vier Uhr früh. Die Tanzfläche im Hamburger Club Uebel und Gefährlich ist gefüllt. Hier, in der siebten Etage eines Bunkers, der sich wie ein riesiger Fremdkörper über das pittoreske Karolinenviertel erhebt, finden regelmäßige Partys des ortsansässigen Labels Dial statt.

Gerade beendet Paul Kominek sein Live-Set. Der unter den Künstlernamen Pawel und Turner bekannte Musiker legt das Mikrofon beiseite, in das er mit sanfter Stimme zu einem harmonischen Gerüst aus Akkorden und House-Beats gesungen hat. Nun übernimmt Hendrik Weber alias Pantha du Prince das DJ-Pult und legt als Erstes einen Remix des Berliners Monolake auf. Es ist der Moment, in dem die Tänzer innehalten und zuhören, während sphärische Soundflächen in den Raum fluten. Bis Weber die Spannung bricht, mit seiner Hand eine neue Platte anschiebt, an einigen Knöpfen seines Mischpults dreht und das Publikum wieder zum Tanzen bringt.

„Das war extrem untypisch, sonst spiele ich live“, wird Weber später über sein Set sagen. Aber was ist schon typisch, wenn es um den Dial-Kosmos geht, dessen Betreiber die Konzeptlosigkeit zur Philosophie erklärt haben?

Dial Records wurde 2000 von den beiden Hamburger DJs und Produzenten Peter Kersten, alias Lawrence und David Lieske alias Carsten Jost ins Leben gerufen. Seit den Anfangstagen zählen auch Philipp Sollmann, bekannt als Efdemin, Hendrik Weber und Paul Kominek zum Netzwerk.

Gegensätzliche Vorlieben

Alle Genannten produzieren komplexe elektronische Tanzmusik mit Referenzen an Deephouse, Detroit-Techno und Ambient, die sie vornehmlich auf Dial veröffentlichen. Darüber hinaus eint das Label aber auch ihre gegensätzlichen musikalischen Vorlieben. Im Sommer brachte Dial etwa das neue Album des Duos Phantom/Ghost heraus, bei dem Tocotronic-Sänger Dirk von Lowtzow theatralisch zu dem Varieté-artigen Klavierspiel von Chicks-on-Speed-Produzent Thies Mynther singt. Auch die Berliner Artschoolpop-Band Dominique gehört zur Dial-Familie.

Trotz seines breiten musikalischen Spektrums redet man in der Clubszene vom typischen Dial-Sound. In den vergangenen neun Jahren wurde das Label so zu einem der einflussreichsten Technolabels, das heute in einem Atemzug mit dem Kölner Label Kompakt genannt wird. Über Kompakt vertreiben Dial auch ihre Schallplatten.

Doch Dial ist mehr als nur ein Label oder ein bestimmter Sound. Es ist eine Plattform von eigenwilligen Künstlern, die jeder für sich ihren Teil zur Label-Arbeit beitragen, ohne dabei zum großen Ganzen zu verschmelzen. Diese Vielseitigkeit macht Dial so schwer greifbar, aber auch so interessant.

Dahinter steckt die Idee, ohne Profitgedanken als Kollektiv zu arbeiten. Ein Kollektiv, zu dem auch eine Reihe deutscher Künstler gehören, deren Fotografien und Zeichnungen die Plattencover der Dial-Veröffentlichungen zu kleinen Kunstwerken machen.

Jeder der Beteiligten erklärt die Haltung und die Geschichte des Labels ein bisschen anders. Der Ort, an dem inzwischen alles zusammenläuft, ist der Smallville-Plattenladen in St. Pauli, den Kersten gemeinsam mit den DJs und Produzenten Julius Steinhoff und Just von Ahlefeld alias Dionne betreibt. Smallville heißt auch das zugehörige Label. Kindlich abstrakte Karikaturen des Künstlers Stefan Marx zieren die Fensterfront des Ladens und deuten Personen und Orte an. An einer Wand hängen Partyplakate und Ausstellungsankündigungen.

Ein alter Schreibtisch dient als Theke, im Schaufenster liegen Sitzpolster. Schallplatten gibt es natürlich auch, aber eigentlich ist Smallville ein „Rumhängort“, wie Steinhoff sagt. „Als wir 2005 den Laden eröffnet haben, kam gerade die Bewegung um den Detroiter Produzenten Omar-S auf, die hier viele Fans gefunden hat.“ House und Techno seiner Machart bestimmen auch das Sortiment von Smallville. Diese Musik legen die Ladeninhaber auch selbst auf ihren Partys auf.

Jüngst veröffentlichte Smallville die Compilation „And suddenly it’s morning“. Eigentlich verbirgt sich genau hier das Rezept, mit dem die Hamburger erfolgreich sind: Sie bringen nur Musik heraus, die ihnen gefällt, und wirken als Multiplikatoren für musikalische Trends jenseits des Massengeschmacks. Und so kommt Hamburgs Techno- und House-Szene nicht nur in den Smallville-Laden, um nach Platten zu kramen, sondern auch um sich auszutauschen.

Der Plattenladen dient außerdem als Dial-Büro. Im Moment lagern im Hinterzimmer Rhythmusinstrumente, die Kersten für die Produktion seines im August erschienenen Albums „Until Then, Goodbye“ verwendet hat.

Die unter seinem Alias Lawrence produzierte elektronische Tanzmusik lässt sich trotz deutlicher Deep-House-Anklänge kaum einem bestimmten Genre zuordnen. Der zurückhaltende, zierliche, in grauem Pullover, mit zerzaustem Haar und einem Schal um den Hals gekleidete Kersten wirkt wie ein Gegenentwurf zu den überdrehten geschäftstüchtigen Charakteren der Technoszene, deren Hedonismusbegriff er manchmal auch scheußlich findet.

Wenn Kersten von Dial spricht, spricht er über persönliche Wärme, seinen Freundeskreis, über Selbstbestimmung und künstlerische Visionen.

Die Labelmacher bevorzugen flache Hierarchien. Im Klartext heißt das: Musiker helfen beim Packen von Plattenpäckchen, erledigen Promoarbeit und bestimmen die Produktion und die optische Gestaltung ihrer Tonträger selbst. Feste Strukturen, strikt organisierte Arbeitsabläufe – all das gibt es bei Dial nicht.

Unkalkulierbarer Pudel

Stattdessen sprechen Kersten und Lieske von einer bestimmten Haltung, die sich hinter ihrem Schaffen verbirgt. Als ein Teil der verwobenen Musikszene in St. Pauli, die sich bis heute einen Hauch von Widerstand und eine ironische Haltung gegenüber popkulturellen Hypes bewahrt hat. Der Pudel Club am Hafen ist ihr Epizentrum. Hier verschmilzt Hamburgs Subkultur in unkalkulierbaren Partynächten zu einer Gemeinschaft. Kersten legte schon in den 90er-Jahren im Pudel auf. Auch heute trifft man ihn dort, ob als als DJ oder Gast. Im Pudel haben sich überhaupt alle kennengelernt. Damals lebte Kersten und Lieske gemeinsam in einer Kellerwohnung und produzierten ihre ersten gemeinsamen Tracks am Computer. „Viele Menschen in unserem Umfeld haben Musik gemacht haben. Da war naheliegend, dass wir uns um die Veröffentlichungen kümmern“, sagt Kersten. Und dann: „Ich bin dafür, dass alle ihre eigenen Labels gründen.“ Heute reisen die Dial-DJs mit ihren Plattentaschen um die Welt. Hendrik Weber ist nach Berlin gezogen. Lieske lebt mittlerweile in Tel Aviv und widmet sich der Konzeptkunst.

Wenn Lieske über Dial spricht, redet er von einem Schlingerkurs. Das Label sei wie sein Tagebuch, in dem er die verschiedenen Lebensabschnitte nachlesen könne. Auch Lieske sagt: „Wir sind schon immer Freunde gewesen.“ Vor ein paar Tagen haben sich die beiden Dial-Chefs in Tel Aviv getroffen und gemeinsam die Compilation vorbereitet, die sie zum zehnjährigen Jubiläum von Dial im kommenden Jahr veröffentlichen möchten. „Zu unserem Netzwerk werden immer wieder neue Sachen hinzukommen“, sagt Lieske. Im Moment könne er sich auch vorstellen, ein Heavy-Metal-Album zu veröffentlichen. Oder einen Verlag zu gründen.

■ Various Artists: „And suddenly it was morning“ (Smallville/Word&Sound)