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Archiv-Artikel

DIE WAHLEN IN AFGHANISTAN DEMOKRATISIEREN DAS LAND NICHT Milizen an der Macht

Die Wahl am Sonntag – nach der Präsidentschaftswahl im letzten Jahr die zweite – wird Demokratie nach westlichem Modell in Afghanistan nicht verankern. Das war auch nicht zu erwarten in so kurzer Zeit. Ein Lackmustest für die Befriedung des Landes ist sie allemal. Noch kann vieles scheitern – weniger an verbleibenden Taliban oder al-Qaida als an Schattenwirtschaft von Drogenbossen und bewaffneten Milizen. Zudem wird sicher eine Reihe ehemaliger Mudschaheddin- und Milizenführer im neuen Parlament sitzen. Einigen von ihnen werden Kriegsverbrechen vorgeworfen, die zurzeit noch nicht justiziabel sind.

Die Devise von Präsident Karsai lautet: lieber viele potenzielle Störenfriede mit im Boot haben als außen vor. Daher die laxe Handhabung des Wahlgesetzes. Selbst Koalitionskräfte bedienen sich in ihrem „Krieg gegen Terror“ der Milizenführer. Das verlangsamt mithin das im Petersberg-Abkommen verankerte Tempo der Entwaffnung. Beobachter stimmen zu, dass es in Afghanistan noch immer rechtsfreie Bereiche und Regionen gibt. Mit Milizenführern als Abgeordnete wird dieser Zustand fortgesetzt. Mit Hilfe der internationalen Staatengemeinschaft könnten die Milizenführer vor einem Tribunal landen, bevor alles verjährt ist. Eine Erfolgsbilanz fehlt bisher auch beim Thema Drogenbekämpfung. Es wird unverändert Mohn im großen Stil angebaut, der Bau-Boom in Kabul stützt sich auf „gewaschenes“ Geld. Der Einfluss der Drogenbosse reicht bis in die Regierung.

Zugleich zeigen Programme, die afghanischen Bauern alternative Lebensunterhalte schmackhaft machen, zarte Erfolge. Anders als man glaubt, legen die Drogenbosse dabei kein Veto ein. Afghanistan ist eben nicht immer so wild, wie wir uns das gerne vorstellen. Mehr als zwölf Millionen registrierte Wähler sind Ausdruck eines grundsätzlichen Optimismus angesichts der neuen Verhältnisse. Über sechs Millionen Kinder gehen zur Schule. Frauen arbeiten in neuen Berufen, ihnen sind per Quote 25 Prozent der Parlamentssitze vorbehalten. Das sind mehr als in den USA und Großbritannien.

Die Sicherheitslage vor der Wahl ist angespannt, aber nicht dramatisch. ISAF und Koalitionskräfte tragen auch diesmal dazu bei, dass die Wahl stattfinden kann. Für die Bundeswehr kommt die eigentliche Veränderung zur Jahreswende. Im Zuge der Neuaufteilung der Zuständigkeiten werden die Deutschen im gesamten Norden Afghanistans das Kommando haben. Wenn die Amerikaner mit ihrer Aufgabenteilung Ernst machen, wird mittelfristig mehr militärische Verantwortung auf die Bundeswehr zukommen. Im Extremfall könnte das auch Kampfeinsätze bedeuten. Diese Option scheint durch das jüngste Treffen der Nato-Verteidigungsminister zeitlich verschoben, ausgeräumt ist der atlantische Dissens in der Sache noch nicht. Das heißt nicht, dass mehr Soldaten benötigt werden. Nach jüngsten Aussagen des US-Militärs in Afghanistan besteht die aktuelle Bedrohung weniger durch Taliban oder al-Qaida als durch „hoffnungslose Einzelgruppierungen“.

Die Umstände am Wahltag deuten sich chaotisch an: der Wahlzettel in Kabul hat die Form einer Zeitung in Größe der taz und listet auf 16 Seiten alle Kandidaten mit Fotos und Namen auf. Die Parteizugehörigkeit wird tabuisiert. Darunter wird das künftige Parlament leiden. Das Wahlsystem haben Amerikaner zusammen mit Präsident Karsai durchgeboxt, gegen die Empfehlung von UN- und EU-Beratern. Es würde nicht einer gewissen Tragik entbehren, wenn ausgerechnet die USA als selbst erklärter „Demokrator“ Afghanistans mit dem Wahlmodus dem Land ein vergiftetes Geschenk hinterlassen haben. Es kann aber auch sein, dass Karsais Rechnung aufgeht und das Land im Takt der „Democracy Afghan Style“ tickt.

Erste Hilfsorganisationen fangen nun an, ihre Gelder zurückzufahren. Dabei beginnt die eigentliche Herausforderung für eine „nachhaltige“ Politik erst jetzt. Afghanistan braucht keine neuen NGOs, sondern eine bessere Koordinierung der vorhandenen 2.000 Hilfsorganisationen und des afghanischen Staates. Korruption – die die afghanische Bevölkerung misstrauisch macht – gibt es sowohl auf afghanischer Seite wie auf Seiten der ausländischen Organisationen. Mehr Rechtsstaatlichkeit hilft auch der Sicherheit der Ausländer. Über die bereits zugesagten Milliarden hinaus muss jetzt eine detailliertere Agenda für Afghanistan her, eine Art Petersberg-Folgeabkommen.

MARTIN GERNER

Der Autor lebt als Journalist in Kabul