Die Ambitionslosigkeit steht ihm gut
KINO In Jan Ole Gersters Debütfilm „Oh Boy“ ist Berlin eine menschenleere Stadt, in der ein Slacker der Welt aus dem Weg geht
Als sein Vater ihn fragt, was er in diesen zwei Jahren eigentlich gemacht habe, antwortet Niko: „Nachgedacht“
Wenn ein Regisseur einen Debütfilm vorlegt, der schwarz-weiß ist, in dem ausschließlich Jazzmusik gespielt wird und der dann auch noch ein Großstadtporträt sein soll, dann ist das erst mal eine Ansage. Hier meint es jemand ernst. Sofort drängen sich Vergleiche auf, mit Woody Allens „Manhattan“ oder den existenzialistischen französischen Filmen der 60er Jahre.
Das Schöne an „Oh Boy“ von Jan Ole Gerster ist, dass man diese Vergleiche beim Sehen schnell wieder vergisst, weil der Film ganz gut für sich stehen kann. „Oh Boy“ erzählt in Episoden von einem Tag im Leben von Niko (Tom Schilling), Ende 20, einem Slacker ohne Ambitionen. Weil der Film in Berlin spielt und Niko sich den ganzen Tag durch die Stadt bewegt, wird „Oh Boy“ gerne als Berlin-Film bezeichnet. Viele der Schauplätze sind klar zu verorten, die U-Bahn-Haltestelle Eberswalder Straße, das St. Oberholz, das White Trash. Dennoch wirkt die Stadt fremd.
Sie drängt sich nie auf, bis auf einige Einstellungen zwischen den Episoden bleibt sie im Hintergrund. Vor allem aber ist sie seltsam leer, fast immer sind Straßen, U-Bahnen und Cafés unbevölkert – selbst das White Trash. Es ist ein ziemlich melancholischer Blick auf diese Stadt, ohne Hipster und Touristen, das Schwarz-Weiß und der Jazz passen da ganz gut.
Und Niko ist ein melancholischer junger Mann, er trägt schwer an sich und der Welt, nur widerwillig setzt er sich ihr aus. Er hat sich Vermeidungsstrategien angewöhnt, redet irgendwas von „Terminen“ und „so viel zu tun“, um nur ja keine Verpflichtungen einzugehen. Bisher hat das gut funktioniert, denn Papa hat den Lebensunterhalt finanziert. Jetzt aber hat der Vater herausgefunden, dass Niko sein Jurastudium schon vor zwei Jahren abgebrochen hat. Als er seinen Sohn fragt, was er in dieser Zeit gemacht habe, antwortet Niko: „Nachgedacht.“
Das muss man sich erst mal leisten können. „Oh Boy“ nimmt Niko in seiner Schwermut ernst, wie klein seine Probleme aber sind, zeigt sich in den Begegnungen mit anderen Menschen. Sie sind die eigentlich interessanten Figuren des Films. Tom Schilling gelingt als Niko der Balanceakt, einerseits den Film als Protagonist zu tragen, andererseits immer wieder in den Hintergrund zu verschwinden, um den anderen Figuren Raum zu lassen. Nikos Nachbar sucht verzweifelt Anschluss, seine Frau hatte Brustkrebs, seitdem ist die Beziehung kaputt. Ein einsamer alter Mann erzählt von der Nazizeit, die Fahrkartenkontrolleure sind völlig frustriert, und Julika (Friederike Kemper), Nikos alte Schulfreundin, steht kurz vor dem Nervenzusammenbruch.
Auch nach Jahren der Therapie hat sie nicht überwunden, dass Niko sie früher gehänselt hat, weil sie so dick war. Dass der Film trotzdem nicht zum Trauerspiel wird, liegt daran, dass Jan Ole Gerster die einzelnen Episoden sehr humorvoll inszeniert. Am lustigsten sind die Sequenzen, in denen es um Film und Theater geht. Nikos Freund Matze (Marc Hosemann) ist Schauspieler, der so lange Rollen abgesagt hat, bis ihn keiner mehr gefragt hat. Einmal nimmt er Niko mit an das Set eines Nazifilms, in dem sich ein Offizier in eine Jüdin verliebt. „Das basiert doch hoffentlich auf einer wahren Begebenheit“, sagt Niko. „Klar“, sagt der Hauptdarsteller, „Drittes Reich halt“.
Julika spielt in einem heruntergekommen Haus in einer Tanztheater-Performance. Es wird gestöhnt und geschrien und am Ende des Stücks zieht der Regisseur über das subventionierte Scheißtheater der großen Berliner Bühnen her. „Oh Boy“ ist eben doch ein Berlin-Film.
LISA GOLDMANN
■ „Oh Boy“. Regie: Jan Ole Gerster. Mit Tom Schilling, Marc Hosemann u. a. Deutschland 2012, 88 Min.