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Archiv-Artikel

Die Sogkraft der Verblödung

THEATER Mit einer Adaption von Georg Büchners Novelle „Lenz“ setzt die Shakespeare Company ihre Sturm und Drang-Reihe fort. Frank Auerbachs Inszenierung überzeugt

Bremen stürmt und drängt

Gleich mehrere Klassiker der so genannten jungen Wilden des 18. Jahrhunderts werden diese Spielzeit auf Bremens Bühnen gezeigt.

■ Im Theater Bremen inszeniert Volker Lösch Schillers Drama „Die Räuber“. Die Uraufführung 1782 bescherte dem Autoren zwei Wochen Gefängnis, löste unter Jugendlichen aber große Begeisterung aus. Premiere: 27. Februar 2010.

■ Goethes „Die Leiden des jungen Werther“, inszeniert von Matthias Schönsee, eröffnete die Saison der Shakespeare Company, am Mittwoch folgte „Lenz“.

■ „Lenz“-Aufführungen: 8., 11., 24. November; „Werther“-Aufführungen am 12. und 26. November im Theater am Leibnizplatz.

VON ANNA GRAS

Krachend tost ein Klavierkonzert. Die Bühne des Theaters am Leibnizplatz ist in Dunkel getaucht. Karg ist sie ausgestattet: Ein paar Stellwände, ein Holztisch und ein Glaskasten, ähnlich einer Duschkabine. Tief über den Tisch gebeugt steht ein Mann, bekleidet nur mit Feinrippunterhosen. Er schreibt. Schnell und wie besessen.

Mit diesem Bild eröffnet die Inszenierung von Georg Büchners „Lenz“, die am Mittwoch bei der Bremer Shakespeare Company Premiere feierte. Und führt direkt hinein in das Innenleben ihres Protagonisten. Der ist schon auf der Bühne, wenn die Zuschauer Platz nehmen. Frank Auerbach – der mit diesem Stück als Regisseur debütiert – hat Büchners Erzählung über den Schriftsteller Jakob Michael Reinhold Lenz (1751-1792) als Monolog-Drama für die Bühne aufbereitet.

Lenz, Vertreter des Sturm und Drang, ist eine tragische Figur der Literaturgeschichte: Nach einer kurzen Phase schriftstellerischen Erfolgs geriet er, zunehmend geplagt von Halluzinationen und Wahnvorstellungen, weitgehend in Vergessenheit und verstarb unter ungeklärten Umständen. Büchners Erzählung greift eine kurze Episode aus Lenz‘ Leben auf: Einen dreiwöchigen Besuch bei dem Pfarrer Johann Friedrich Oberlin im elsässischen Waldbach. Lenz, dargestellt von Michael Meyer, schildert das Geschehen in Auerbachs Inszenierung selbst.

„Fühl alle Lust, fühl alle Pein“, dichtet er in einem seiner guten Augenblicke. „So können wir auf Erden schon ewig selig werden.“ Lenz ist hier Grenzgänger, immer wieder bricht er ein, der Wahn hervor. Bei Oberlin findet er kurze Phasen der Entspannung, in denen er sich Natur und Bibel widmet. Doch seine Stimmungen schwanken, schlagen von ruhigen, introvertierten Momenten urplötzlich in laute Ausbrüche um. Begleitet werden die von harschen Elektro-Beats, die auf Lenz und Zuschauer gleichermaßen einhämmern. „Ich riss mich an den Nägeln“, schildert der seinen Gemütszustand sachlich-ruhig. „Der Schmerz fing an, mir das Bewusstsein wieder zu geben.“

In klaren Momenten diskutiert er leidenschaftlich über Literatur: „Ich verlange in allem Leben die Möglichkeit des Daseins“, sagt er, ganz Sturm und Drang. „Wir haben nicht zu fragen, ob es schön oder hässlich ist.“ Da spricht auch Büchner, der sich seinerzeit vom Idealismus abgrenzte, die Menschen nicht als stilisierte Idealtypen, sondern wiedergeben wollte, wie sie sind, samt negativer, abgründiger Züge. Lenz, Vertreter des Sturm und Drang, Kind der Hochphase des Genie-Gedankens, ist einerseits Sprachrohr für Büchners Anliegen, andererseits Beobachtungsobjekt. Büchner seziert den Wahnsinn nüchtern.

Das gelingt erfreulicherweise auch der Inszenierung, die den Lenz von innen statt von außen beobachtet. Meyer gibt ihn nicht als exaltiertes Genie, das seinen Wahnsinn pflegt und genüsslich auskostet – weil der zum Genie-Sein eben dazugehört. Lenz betrachtet hier seine fortschreitende „Verblödung“, wie er es nennt, selbst. Entsetzt, zweifelnd, zerbrechlich, stellenweise mit spitzer Selbstironie. Meyer gibt dem Wechselspiel aus Wirr und Klar ohne Hast die nötige Zeit. Und bleibt stets überzeugend. Schnell entwickelt der Blick in Lenz‘ abgründiges Seelenleben Intensität und Sogkraft.