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Archiv-Artikel

Das Leben gewinnt 3:0

MIGRANTISCHE WIRTSCHAFT Das Ballhaus Naunynstraße lädt auf „Die große Geld oder Leben Tour“ ein. Sie führt per Bus in ein vietnamesisches Kaufhaus in Lichtenberg und eine Kreuzberger Autowerkstatt – und spielt das Leben gegen das Theater aus

Wer kann schon von sich sagen, dabei gewesen zu sein, als das Theater sich einmal selbst abgeschafft hat?

VON KATHARINA GRANZIN

Der Busfahrer ist ein Busfahrer ist ein Busfahrer. Er heißt Ecki und lässt es sich nicht nehmen, zu Beginn einige mahnende Worte über mitgeführte Getränke nach hinten zu schicken. Auch (fast) alle anderen sind ganz sie selbst, die vietnamesischen Händler ebenso wie die türkischen Automechaniker oder der Sozialarbeiter vom Kottbusser Tor. Sie sind die Menschen, die wir heute Abend treffen werden, denn wir sind mit Eckis Bus unterwegs auf der „Großen Geld oder Leben Tour“, einer großen Produktion des Ballhauses Naunynstraße im Rahmen des Festivals „Beyond Belonging“.

Der junge israelische Regisseur Michael Ronen hat sie inszeniert und mit seinem Team Orte aufgespürt, an denen ein Leben jenseits durchschnittlicher Erfahrungswelten – „postmigrantisch“ ist das Schlagwort – stattfindet. Um an solche Orte zu gelangen, muss man manchmal weit fahren. Etwa zum Lichtenberger Dong Xuan Center, dem größten vietnamesischen Shoppingcenter der Stadt, das in vier messeähnlichen Riesenhallen mitten im dunklen Nirgendwo zu liegen scheint. Innen aber ist es hell und sehr bunt. Es duftet nach Asia-Schnellküche, und man kann alles kaufen, was auf dem asiatischen Kontinent an Schnickschnack produziert wird.

Leider müssen wir Plastikblumen, Wackeldackel, getrockneten Fisch und was sonst ins Auge sticht links liegen lassen, denn wir sollen Geld verdienen. Helfer lotsen uns in Läden, wo wir für imaginäre Käufer, deren Bilder uns auf laminierten Kärtchen gereicht werden, passende Waren aussuchen müssen. Anschließend begutachten die Ladenbesitzer streng unsere Wahl. Wessen Beratungsleistung zufriedenstellend war, der bekommt etwas Theatergeld, das später investiert werden soll.

An der nächsten Station des Busses, hinter dem Finanzamt Kreuzberg, bekommen wir statt einer Investitionsgelegenheit erst einmal Tee und Süßigkeiten und eine zauberhafte kleine Vorführung. Das alte Kreuzgewölbe, unter dem wir sitzen, hat früher einen Pferdestall beherbergt; heute ist hier eine Autowerkstatt. Orhan Tosun und Asim Çim stehen vor uns und erzählen. Sie reparieren zwar auch Autos, doch nicht nur. Asim hält zwei Tauben in der Hand, schöne, zart gefiederte Wesen, die nichts gemein haben mit den Berliner Straßenvögeln. Die eine, erklärt Asim, habe er aus der Türkei, die andere Rasse komme aus dem Irak. Als er die beiden fliegen lässt, schlägt einer der Vögel einen Salto rückwärts. Diese eigentümliche Art der Fortbewegung, erfahren wir, mache die Tauben jedoch zu einer leichten Beute für die zahlreichen Berliner Falken. Zum Abschied lässt Asim all seine Tauben für uns aus ihrem Schlag, einem Bauwagen, hinaus in den geschützten Auslauf. Wir verabschieden uns mit Applaus. Es ist die einzige Gelegenheit dazu an diesem Abend.

Denn diese Inszenierung scheint das wirkliche Leben geradezu gegen das Theater auszuspielen. Auf der Verliererseite dabei: das Theater. Inszenierung findet vornehmlich im Bus statt. Die Sitze sind mit Namen fiktiver Charaktere markiert. Über Kopfhörer hören wir zu Beginn alle die Lebensgeschichte einer Figur, in die wir uns für die Dauer der Fahrt einfühlen sollen. Schön zwar, dass diese bedrohliche Anmutung von Amateurtheaterworkshop gleich wieder vorbei ist, und dennoch enttäuschend inkonsequent.

Auch der Auftritt des einzigen Schauspielers (Atilla Oener), der auf der Rückfahrt von Lichtenberg nach Kreuzberg zusteigen muss, um mit dem „Straßenfeger“ zu wedeln und ethisch aufrüttelnde Reden zu halten, liegt eigenartig quer zum sonstigen Konzept. Nachdem man gerade die Wirklichkeit als Vorstellung erlebt hat, nimmt man es nicht so einfach hin, wenn umgekehrt qua Schauspiel Betroffenheit aktiviert werden soll.

Die letzte Station des Abends ist das Kottbusser Tor, wo wir uns auf unterschiedliche Bereiche des echten Lebens verteilen und unser Spielgeld abgeben dürfen. Der Sozialarbeiter Ercan Yașaroglu sitzt mit uns im Café Kotti und erzählt unerschöpflich über Junkies, Dealer und die anderen Kids vom Kottbusser Tor. Dass der Theaterabend da schon vorbei ist, hat uns vorher niemand gesagt. Aber, natürlich, nichts ist erstaunlicher als das wirkliche Leben. Und wer kann schon von sich sagen, dabei gewesen zu sein, als das Theater sich einmal selbst abgeschafft hat?

■ Wieder am 7. November, 13, 16 und 18.30 Uhr ab Ballhaus Naunynstraße