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Archiv-Artikel

„Keine Chance für Mütter“

„Die Souveränen“ (Teil 5): Margit Sander ist allein erziehende Mutter mit zwei Kindern. Durch die Sozialreform Hartz IV hat sie viel Geld verloren. Wählen geht sie nicht

Hartz V und VI werden sicher kommen, egal wer nach der Wahl regiert, sagt Sander

Wählen geht Margit Sander (alle Namen geändert) schon länger nicht mehr – sie ist zu enttäuscht von der Politik und ihrer sozialen Realität: „Als allein erziehende Mutter haben Sie keine Chance in diesem Land.“ Dagegen tue keiner etwas, meint sie, und selbst wenn es einer versuchte, könnte er sich nicht durchsetzen. Verbittert schaut die 47-Jährige aus dem Fenster ihrer kleinen Wohnung in Wilmersdorf. Der Blick hinaus ins Grüne muntert sie kaum auf. Das macht eher noch Anna, ihre 13-jährige Tochter, die ihren Kopf an die Schulter der Mutter legt und Trost spendet. „Wir schaffen das“, sagt die Tochter. Viel Verantwortung für eine Teenagerin, vielleicht zu viel.

Im Moment zieht die Familie – Mutter, Tochter und ein Sohn, der vergeblich eine Lehrstelle sucht – in eine neue Wohnung um. In der alten stapeln sich Kisten, einige Möbel sind noch da, und die Renovierung lässt auch noch auf sich warten. Das geht nun schon seit Wochen so, immer wieder kommt etwas, zum Beispiel Unpässlichkeiten der Mutter, dazwischen. „Wir mussten hier raus, die Wohnung ist viel zu klein“, sagt Sander. Nur durch die Hilfe eines Freundes könne sie sich die größere Wohnung im gleichen Kiez leisten, in der jeder ein eigenes Zimmer hat.

„Im Grunde genommen existiere ich gar nicht, warum soll ich da wählen gehen?“, fragt Sander. Als junge Frau hat sie FDP gewählt. „Das war damals in Westberlin links“, erklärt sie. Später machte sie bei SPD und Grünen ihr Kreuz. Durch Hartz IV habe sie knapp 1.300 Euro Familieneinkommen im Monat verloren – nämlich ihre alte Arbeitslosenhilfe plus Kindergeld plus Beiträge für die Krankenversicherung, die sie jetzt zahlen müsse, rechnet Sander vor. Als Biologin hat sie jahrelang in großen Unternehmen ein gutes Einkommen gehabt – bevor sie nach einer Konzernfusion arbeitslos wurde. „Wenn Sie über 40 sind und zwei Kinder haben, brauchen Sie sich nicht mehr bewerben.“

Arbeitslosengeld II möchte Sander nicht beantragen. „Uns stehen ohnehin nur knapp 150 Euro zu, weil Unterhalt und Kindergeld angerechnet würden.“ Dieses Geld lohne nicht den Antrag; das Risiko, per Zwangsumzug in ein „soziales Ghetto oder einen Gewaltbrennpunkt“ zu müssen, sei zu groß, meint sie. Eine Freundin mit Kind sei vom Hartz-Amt gerade aufgefordert worden, sich eine neue, billige Wohnung auszusuchen. „Meine Tochter geht hier aufs Gymnasium, hat gute Zensuren“, sagt Sander. Dies müsse so bleiben, eine gute Schulbildung sei ihre Chance. Anna nickt – und sagt: „Nach Kreuzberg will ich nicht.“ Also leben die Sanders, so hat es der Familienrat beschlossen, vom Unterhalt der Kinder und der Unterstützung eines Freundes.

Am meisten ärgert sich Sander über die Familienpolitik. Wer auf staatliche Unterstützung angewiesen sei, müsse darum betteln. Außerdem dauere es viel zu lange, bis die Väter zur Zahlung von Unterhalt verpflichtet würden, wenn diese nicht zahlen wollen. „Wenn man Mütter wie Dreck behandelt, braucht man sich nicht wundern, dass es kaum noch Kinder gibt.“

Hartz IV sei nicht der letzte große Einschnitt gewesen, ist sich Sander sicher. Hartz V und VI werde kommen, vor allem bei einer großen Koalition. „Gegen die Wirtschaftskriminalität wird nichts gemacht, da verschwindet das Geld.“ Auch von der Linkspartei erhofft sich Sander wenig. Ihre Begründung dafür reicht, wie sonst mitunter auch, ins Verschwörerische: „Wenn man die Linke spaltet, kommt die Rechte an die Macht.“ Dies habe sich schon bei der Wahl George Bushs gezeigt, demokratischer und grüner Herausforderer hatten sich gegenseitig die Stimmen weggenommen. Außerdem könne die Linkspartei nur meckern, werde nie Mehrheiten bekommen. Auch lohne es nicht, seine Stimme Spaßparteien zu geben. Diese seien nur ein „Auffangbecken für frustrierte Akademiker“.

Einmal jedoch hat eine Kommunalpolitikerin Sander beeindruckt. An die Aktion kann sich Sander noch genau erinnern, an den Namen nicht. Die Frau habe vollgeschissene Windeln auf den Stuttgarter Platz geschmissen, um auf die schwierige Situation von Müttern aufmerksam zu machen. „Das hat mir gut gefallen, die würde ich wählen“, sagt Sander mit leuchtenden Augen. Leider sei die Politikerin später wieder von der Bildfläche verschwunden.

Am Sonntag wird sich Familie Sander also um einiges, nur nicht um die Wahl, kümmern: Umzug, Hausaufgaben, Aufräumen. Die Zukunft sei schwierig, aber man dürfe sich nicht unterkriegen lassen, sagt Sander: „Irgendwie geht es immer weiter.“ Wieder nickt Tochter Anna, während sie eine Textnachricht in ihr Handy tippt. Sie würde Schröder wählen, wenn sie schon dürfte. RICHARD ROTHER