: „Die kleinen Leute haben zu wenig Geld“
taz-Serie „Die Souveränen“ (Teil 4): Seit 31 Jahren steht Heinz Tode auf der Müllerstraße. Wurst hat er verkauft, bis ihm sein Stand abhanden kam, und Eis. Bisher wählte der 69-Jährige CDU: Doch die FDP macht ihm Hoffnung, dass er eine neue Konzession kriegt, um wieder Wurst anbieten zu können
VON WALTRAUD SCHWAB
Der Eisverkäufer auf der Müllerstraße nahe der Ecke Seestraße heißt Heinz Tode. Um ehrlich zu sein, es ist ein Name, dem große Melancholie anhängt. Todes Großvater hat dreimal um die Hand von Frauen angehalten, die seinem Werben nicht nachgaben, weil sie nicht so heißen wollten. Damals musste eine Frau noch den Namen ihres Mannes annehmen. Die Berlinerinnen wussten um die Geheimnisse von Nomen und Omen.
Der 69-jährige Eisverkäufer hat solche Erfahrungen nicht gemacht. Braun gebrannt steht er neben seiner Softeismaschine, „Cappigiani“, die „beste Marke von allen“. Neu kostet sie 28.000 Euro, so viel wie ein Mittelklassewagen. Er hat zu D-Mark-Zeiten schon 40.000 dafür bezahlt. Tagein, tagaus – sofern die Sonne scheint – bietet Tode dem Müllerstraßenpublikum seine Spezialitäten an: Vanille, Schoko oder gemischt. Die meisten Kunden nehmen gemischt für einen Euro. Der Mann mit der Tätowierung am Oberarm und der Plastiktüte in der Hand etwa. Auch die Inderin im Sari mit dem Kinderwagen und kurz danach die verschleierte hochschwangere Araberin mit den zwei Kindern. Selbst das Weddinger Seelchen mit dem zu eng sitzenden Engels-T-Shirt über dem kräftigen Körper gönnt sich nur die kleinste Portion.
Todes Leben ist eine Berg-und-Tal-Fahrt. Mal hatte er eine Kneipe am Bodensee, „da hätte ich bleiben sollen“. Er konnte den Verlockungen Berlins nicht widerstehen und stieg Anfang der 70er-Jahre beim Tanzcafé in Frohnau ein. „Das ging kaputt wegen der Mauer.“ Das Einzugsgebiet war weg. Deshalb übernahm er 1974 den Wurststand seines Onkels auf der Müllerstraße. Der Eisstand kam später dazu. „31 Jahre bin ich jetzt hier.“
Die Wurst soll die beste im ganzen Wedding gewesen sein. Hausmarke, in Speck angebraten. Im Eingang der Drogerie war der kleine Straßenimbiss. Eineinhalb Quadratmeter. Hinten im Hof hatten Tode und seine Frau noch Küche und Toilette. Die Miete am Schluss: 2.000 Euro im Monat. Strom extra. Der Eisstand steht ein Haus weiter im Eingang beim Optiker. Da ist es billiger.
„Bis zur Wende war die Müllerstraße der Kudamm des Nordens“, sagt Tode. Andere sagen das auch. Seitdem ist es nur noch bergab gegangen. „Man hat immer gehofft, dass es wieder besser wird.“ Deshalb habe er seine Altersversicherung in den Wurststand gesteckt. Er kam ja auch nicht aus dem Mietvertrag raus. „Ich hätte nicht geglaubt, dass es mal so weit kommen würde.“
Vergangenen November war Schluss mit der in Speck gebratenen Hausmarke und der Thüringer. „Beste Qualität“, versichert Tode. „Ich hab nur ausgesuchte Ware gekauft. Die Kunden haben es einem gedankt.“ Er wachte aus der Narkose auf – „das Knie war’s“ – und seine Frau rief an. „Ich kann den Wurststand nicht aufmachen. Die haben einen Bauzaun um die Drogerie gebaut.“ Kein Wort der Ankündigung habe es gegeben, versichert Tode. Dass der Wurststand futsch ist, das habe ihn schon sehr mitgenommen. Er konnte nicht mehr schlafen, nichts mehr essen. Sieben Kilo abgenommen habe er in vier Wochen.
Dass es nur bergab geht, „wirtschaftlich, nicht menschlich“, ist dem braun gebrannten Mann mit den muskulösen Oberarmen nicht anzusehen. Mit einer Engelsgeduld händigt er Kindern mit großen Augen, samt ihren Müttern, die keine Kraft mehr haben, „nein“ zu sagen, und Männern in Trainingsanzügen ihr Eis aus, für ein paar Groschen extra tunkt er es vorher noch in Schokolade. Tode hat ein freundliches Lachen. „Ich kann’s doch nicht an den Kunden auslassen.“ Es – das Auf und Ab des Lebens. „Die kleinen Leute haben kein Geld mehr. Man hat ihnen zu viel weggenommen.“ Mit seinem offenen Blick wirkt er, als staune er über den Niedergang.
„Ich glaube nicht, dass überhaupt noch eine Partei den Karren aus dem Dreck ziehen kann.“ Eine Chance will er ihnen dennoch geben: Die FDP habe ihm versprochen, dass sie sich dafür einsetzt, dass er vom Tiefbauamt eine Konzession für eineinhalb Quadratmeter Straßenland direkt beim U-Bahnhof haben kann, wo er seinen Wurststand wieder aufmachen kann. Viel Hoffnung hat er nicht. Eigentlich hat er immer CDU gewählt, aber wenn die Liberalen es schaffen, ihm das Okay des Bezirksamts zu beschaffen, dann wird er zum Dank auf dem Stimmzettel sein Kreuz bei denen machen.
Nur an schönen Tagen steht Tode bis dahin mit seiner Eismaschine da, wo er all die Jahre gestanden ist. Er muss es tun. Seine Rente: 270 Euro. Allein die Krankenkasse ist 70 Euro teurer. Seine Frau, die bei ihm angestellt war, ist arbeitslos. Gemessen am Umsatz zu den goldenen Müllerstraßenzeiten liege er derzeit noch bei zwanzig Prozent. Resigniert wirkt er trotzdem nicht. Er lehnt sich an den kleinen Beistelltisch neben der Maschine, sieht den Leuten nach und sieht sie gleichzeitig auch nicht. Sie sind wie ein Fluss, der an ihm vorbeifließt.
Dass die Stammkunden ihm täglich versichern, dass sie seine Wurst wieder haben wollen, das freut ihn. Neulich soll einer der alten Bekannten zitternd auf ihn zugekommen sein. „Was ist denn mit dir los?“ – „Ich bin auf Entzug“, soll er gejammert haben, „ich brauch deine Wurst, ich brauch deine Wurst.“ Tode bräuchte sie auch.