: Ostexport 5: Pragmatische Frauenpolitik
VON INES POHL
Was waren wir stolz auf uns, in diesem Sommer 1990. Gerade hatten wir erreicht, dass die Prüfungsordnung am Historisch-Philologischen Fachbereich der Georgia Augusta zu Göttingen verändert wird. Endlich würde es nicht mehr nur Studenten und Professoren und Magister geben, sondern auch Studentinnen, Professorinnen. Oder Studierende und Lehrende. Die Mauern des Patriarchats schienen eingerissen.
Wir dachten gerade darüber nach, wie wir auch noch das Wort Magistra unterbringen könnten, als die Tür aufging und eine Frau, mittelgroß, kurze Haare, klare Augen, klare Stimme, sagte: „Hallo, ich bin Sabine, ich bin neu hier und würde gerne bei eurem Studentenkreis mitmachen.“
Mitmacherinnen waren immer willkommen. Nur der Studentenkreis irritierte. Egal.
„Und was studierst du?“ – „Ich möchte Deutschlehrer werden.“ Oh Sabine, dachte ich, gerade dann solltest du doch etwas sorgfältiger mit Sprache umgehen.
Ob sie denn ein feministisches Anliegen habe, wollten wir von Sabine Deutschlehrer wissen. Natürlich, deswegen sei sie doch hier, sagte sie. Sie fände es erschreckend, dass es an der Uni keine Wickeltische und keine Kinderbetreuung gebe, und dafür wolle sie kämpfen. Und außerdem für Notrufsäulen in den dunklen Ecken auf dem Campus. „Und die Sprache?“ – „Wie, die Sprache?“ – „Die Prüfungsordnung, die Urkunde! Magistra!“ – „Wenn ich keinen Hortplatz für meine zweijährige Natalie finde, dann ist mir der Titel einer Urkunde egal, die ich sowieso nie bekomme.“ Da schwiegen wir. Und fragten uns, wie alt Sabine wohl war. Und ob wir nicht vielleicht am falschen Ende angefangen hatten zu kämpfen.
Sabine kam aus Norddeutschland. Genauer gesagt, aus Schwerin. Ihre Mutter war Chemiker. Den Vater hatte es nie so richtig gegeben. Über weibliche Formen von Berufsbezeichnungen hatte sie sich bis zu diesem Nachmittag noch nie Gedanken gemacht. Sondern darüber, wie sie möglichst bald eine Studenten-WG findet, in der ihre Tochter willkommen ist. Und wo vielleicht abends auch mal jemand auf Natalie aufpasste, wenn sie als Kellner arbeitete.
Am Ende des Semesters beschlossen wir, den Kampf für den Titel Magistra in der Abschlussurkunde erst mal aufzugeben. Wir bildeten eine AG Wickeltisch. An die muss ich seit jenem Spätsommernachmittag oft denken, wenn ich das Binnen-I verwende.
Bis heute bin ich schwer beeindruckt von dem pragmatischen Alltagskampf von Sabine aus dem Osten, die unser sicheres und beschränktes Studentenleben durcheinandergeschüttelt hat.
■ Ines Pohl ist taz-Chefredakteurin. Geboren 1967 in Mutlangen, lebt sie heute in Westberlin