: In Worten leben
WENDE Als die Mauer aufging, am 9. November 1989, hoffte Wilfried Bonsack, dass Ostberliner Bohème auch im Westen möglich ist. Eine Illusion?
WILFRIED BONSACK ÜBER SEINE POESIE
VON WALTRAUD SCHWAB
Mittstadtnebel“ und „Schwertlilienabgrund“, „Flüsse ohne Sprache“ und „steingewordener Gesang“ – Worte wie Kleinode, der Sprache abgerungen, wenn lange an ihr geschliffen wird. Wilfried M. Bonsack hat sie gefunden und in seiner Wortsammlung untergebracht – einer Wortsammlung, die niemand will.
In angegrauten Jeans öffnet Bonsack die Tür. Über der Hose trägt er die speckig glänzende schwarze Weste mit leeren Taschen. Seine grauen Haare reichen bis zur Schulter, sein Bart bis zur Brust. In der Hand hat er eine Pfeife. „Ich rauche, seit ich vierzehn bin.“ Sein Gesicht ist gefurcht. Lange schon lebt der Sechzigjährige in Berlin-Mitte in der Tucholskystraße.
Es ist schwer, Bonsack zu erreichen, aber leicht, ihn kennen zu lernen, so offen, so freundlich, „ja, komm vorbei.“ Wer sich mit ihm verabredet hat, stolpert über den Sisalteppich in sein Domizil und wird eingefangen vom Geruch kalten Rauchs und abgestandener Männlichkeit. „Setz dich“, sagt er. Und: „Ich sag du.“ Er zeigt auf ein abgewetztes Sofa, vor dem ein ovaler Tisch steht, der einst als Malerpalette diente. Überall stehen alte Möbel, aufgeschlagene Bücher, Zeitschriften, siebenarmige Kerzenleuchter. Bonsacks jüdische Herkunft ist ein ungeklärtes Kapitel für ihn. Seine Eltern schwiegen. Einziger lebender Farbtupfer: die Blumen auf dem Fensterbrett. Sie sehen frisch aus. „Mit denen kann ich reden“, sagt er. „Wenn ich es nicht tue, gehen sie ein. Wie Frauen sind sie.“
Bonsacks Wohnung wirkt wie das Hinterzimmer eines Trödelladens, die Wände mit Regalen verbaut, gebogen von der Last vieler Bücher. Bleibt doch Platz, hängen Gemälde auf der vergilbten Tapete. Darunter ein Porträt von ihm, das Bernhard Heisig gemalt hat. Konturlos verschwindet Bonsack in diesigen Schwaden. Auf der gegenüberliegenden Wand hängt eins, das Norbert Wagenbrett malte. Die erloschene Pfeife liegt auf seinem Schoß, als wäre die Pfeife der Penis. Obwohl bekleidet, wirkt er nackt.
„Wie geht es dir?“, diese erste Frage an ihn, einen Fremden, gerichtet, lässt keinen Raum für Floskeln, schnell hingeworfen, um die Distanz zu wahren. Hier gibt es keine Distanz. Schon der Geruch in der Wohnung ist zu intim und die abgenutzte Schwermut, die auf den Möbeln liegt. „Nicht gut“, antwortet Bonsack. „Hartz IV.“ Er zuckt mit den Schultern. Was er zu erzählen hat, kommt in Halbsätzen und bleibt unscharf. „Na und na ja, ich muss bloß sagen, irgendwie na ja.“ Der Alkohol, nicht der von heute, der von all den Jahren davor, hat das Satzgefüge auseinandergerissen. Er sei empfänglich für das Zeug, „ich kämpfe ständig dagegen an, mitunter vergeblich.“
Bonsack ist Schriftsteller. Schriftsteller kann jeder von sich sagen, es ist kein geschützter Beruf. „dreizehn ballen wolle / warf ich dir zu / du solltest sie spinnen / zu wortgarn“, schrieb er. Oder: „in der melancholie des schweigens / dort und nur dort / sprechen die bäume“. Oder: „hör den worten nicht zu / verschließ dich / dem schatten des fensters“. Oft, sehr oft, geht es in seinen Gedichten um Kommunikation, um solche, die scheitert. „Alles muss Sprache werden, sonst kann ich es nicht begreifen.“
Schriftsteller, das ist die geronnene Identität Bonsacks. „Ich bin Schriftsteller“, sagt er und fügt hinzu: „Von den Verlagen nicht sehr glücklich bedient.“ In solch zarte Worte hüllt er die Enttäuschung, die sein Leben durchzieht.
In der DDR hat Bonsack, studierter Theologe und Philosoph, als Literat überleben können. „Ich habe Puschkin nachgedichtet. Ich habe Marina Zwetajewa nachgedichtet.“ Aber keine seiner Nachdichtungen wurde veröffentlicht. Bezahlt wurde er trotzdem. „Man bekam den Auftrag. Man bekam das Honorar.“ Was er nicht bekam: Briefe, in denen stand, dass seine Übersetzungen gedruckt werden.
Als Dichter wurde er vom DDR-Staat ausgehalten und konnte Avantgarde sein: Pfeifenraucher, Verseschmied, Wohnungsbesetzer, Liebhaber, Trinker. Eine Zeit lang war er auch im Henschel-Verlag angestellt. An Film- und Theaterbüchern habe er mitgearbeitet. „Ich habe Heiner Müller gekannt. Der konnte in den Westen, aber ich habe ihn nicht beneidet. Ich lebte hier.“
Hier, damit meint er Ostberlin. Mitte. Tucholskystraße. Als er 1980 in die Wohnung einzog, war sie eine Ruine. „Vom ersten Stock aus konnte man in den Keller sehen.“ Er hat alles instand gesetzt und es geschafft, die Wohnung auch nach der Wende zu halten. Bis heute. „Ich habe hier sogar mal mit zwei Frauen gelebt.“ Mit der einen hatte er die Verbindung damals beendet, mit der anderen begonnen. Dreimal war er verheiratet. Kinder hat er keine. „Das war meine Bedingung an die Frauen, weil ich die Verantwortung nicht tragen konnte.“
Bonsacks Leben dreht sich 1989, als die Mauer fiel. Mit der Wende war so viel Hoffnung verbunden. Endlich Aufbruch. Endlich nicht nur denken, sondern reden. Bonsack macht, was ihm seine Leidenschaft diktiert. Er wird Verleger. Verleger von Lyrik. „BONsai typART“ heißt der Verlag. „BON, das steht für meinen Namen“, sagt er. Und „sai“ hieße klein auf Japanisch. Er wollte nicht groß sein. Wohl aber wollte er ein Typ sein, ein Charakter, der große Kunst macht.
Dreißig bibliophile Bücher bringt er heraus. Er holt einen Stapel aus dem Schlafzimmer. Tanja Dückers ist darunter, heute die bekannteste. Eine, die ihn nicht mehr grüße, sagt er. Auch ein Buch von Bernd Kebelmann zeigt er, eins von Harald Gröhler. Später stellt sich heraus, die zwei sind noch Freunde, die kommen, wenn er ruft.
Bonsack machte alles in seinem Verlag alleine, das Lektorat, den Vertrieb, die Veranstaltungen, er bindet die Bücher auch selbst. Und er nutzt seinen Salon, den er schon zu DDR-Zeiten gründete, fürs Marketing seiner Bücher. Nach der Wende sollen die Leute manchmal bis in den Hausflur gestanden haben. Aber nach dem dreißigsten Buch, seinem letzten, das von Nietzsche mit dem Titel „Nur Narr! Nur Dichter!“, kann er nicht mehr, wenn er nicht verhungern will. Er wird aus dem Paradies, das sich nach der Wende auftun sollte, vertrieben. Eine Dekade lang gab es den Verlag. „Im Jahr 2000 hab ich ihn aufgegeben. Ich hab den Kapitalismus nicht verstanden.“
In der DDR war Bonsack Bohemien mit Arbeit, die nicht gewürdigt wird. In der Bundesrepublik muss er sich die Arbeit, die nicht gewürdigt wird, selbst suchen. „Die Würde zu verlieren tut weh, egal in welchem System.“ Er sagt es mit weicher, fast tonloser Stimme. „Bin halt ein kleiner Hansel, der in die Mühlen geraten ist.“ Um das Leben überhaupt zu ertragen, taucht er mitunter ab, ist für niemanden erreichbar. Über Wochen nicht.
Bonsack ist vieles: Dichter, Gelehrter, Mäzen, Mentor, Denker, Freund. Nur „Freund“ ist ihm geblieben. „Man muss Freunde haben“, sagt er. Noch immer findet in seiner Wohnung, dieser Höhle, in der Worte gezimmert werden gegen das Verstummen, der Salon statt. Dann kommen sie – Kebelmann, Gröhler, ein paar andere. Literaten, Übersetzer, Journalisten sind es. Sie reden über Literatur – wie an jenem Freitagabend im Herbst.
Eine Handvoll grauhaariger Männer. Bonsack zugeneigt, scharen sie sich um den ovalen Tisch. Sie bringen Rotwein mit und Salzstangen. Lyrik von Erich Fried – jüdisch, vor den Nazis nach London geflüchtet – wird gelesen. Serielle Poesie, Wörter, geworfen wie Bälle, die man auffangen und zurückwerfen kann. Aber anders als in den achtziger Jahren, in denen die Gedichte entstanden, verfehlen sie ein Vierteljahrhundert später viel leichter ihr Ziel.
Nur die Miniatur über die Wanze, die Fried schrieb, verfängt für ein paar Minuten in Bonsacks Salon. Die Wanze, die stinken soll, die aber, riecht man bewusst an ihr, gar nicht mehr stinkt. Bonsack findet die Miniatur „atemberaubend. So kenne ich Fried nicht.“ Der Vortragende sagt, Fried hätte das aufgeschrieben, Anfang der achtziger Jahre, „noch vor seiner Krebserkrankung“ – einem Krebs, der seine Gedärme zerfraß. Um vom Schrecklichen, vom Stinkenden abzulenken und auf das Schöne zu verweisen, wechseln die Gäste zu einem anderen Thema. Zu Frauen. „Ein ungeheures Kapitel bei Fried.“
Für ein, zwei Stunden füllt Poesie Bonsacks Räume und verdrängt die Armut, die Schwermut und den Geruch, der daran hängt. Am Ende steht das Crescendo, mit dem jeder Abend über Erich Fried zum Höhepunkt kommt:
„Es ist Unsinn / sagt die Vernunft / Es ist was es ist / sagt die Liebe / Es ist Unglück / sagt die Berechnung / Es ist nichts als Schmerz / sagt die Angst / Es ist aussichtslos / sagt die Einsicht / Es ist was es ist / sagt die Liebe / Es ist lächerlich / sagt der Stolz / Es ist leichtsinnig / sagt die Vorsicht / Es ist unmöglich / sagt die Erfahrung / Es ist was es ist / sagt die Liebe“ Mit mächtig donnernder Stimme wird der leise Text vorgelesen. Bonsack ist das gleich. Er findet alles wunderbar, was gesagt wird. Misstöne, Kritik, Spott – das erträgt er nicht mehr. Er will in Worten leben, die den Menschen wegführen aus dem Alltag. „Mittstadtnebel“, „Schwertlilienabgrund“. Aber dann holt ihn die Wirklichkeit doch wieder ein. Angesprochen auf seine Traurigkeit, sagt er: „Ich weiß nicht, was ich falsch gemacht habe.“ Und nach einer kurzen Pause: „Ich weiß nicht, was ich richtig gemacht habe.“ Dazwischen: nichts.