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Archiv-Artikel

Monströses Berichtswesen

In den DDR-Betrieben sorgten Vertrauensleute für Ausgleich, Harmonie und ideologische Schulung. Dafür waren sie selten bei der Stasi, wie Renate Hürtgen detailreich nachweist

VON RUDOLF WALTHER

Es ist seltsam: Entweder wird die DDR aus ideologischen Gründen schlecht gemacht oder als gemütliche Diktatur verklärt. Diese Sichtweisen durchbricht nun die Berliner Sozialwissenschaftlerin Renate Hürtgen und durchleuchtet einen Sektor, über den man bislang recht wenig Präzises wusste: den betrieblichen Alltag.

Darin kam den Vertrauensleuten eine wichtige Rolle als Moderatoren zu. Dank des hohen Anteils der weiblichen Beschäftigten in der DDR waren das sehr oft Frauen. Die Vertrauensleute sorgten für ein gutes Betriebsklima, Harmonie und Ausgleich. Und: Sie wurden selten zu Informanten der Staatssicherheit, da die sich stärker mit der Leitungsebene in den Betrieben beschäftigte.

Hürtgens Studie beschäftigt sich mit den rund 350.000 ehrenamtlichen, gewerkschaftlichen Vertrauensleuten in den Betrieben. Das Ehrenamt war in der DDR eine Massenerscheinung. 1977 gab es nicht weniger als 3.085.083 Elternbeiräte, Schöffen, gewerkschaftliche Vertrauensleute, Mitglieder der Arbeiter- und Bauerninspektion, der Schiedskommissionen und der Volkssolidarität. Über deren Rekrutierung und Funktion ist wenig bekannt. Soweit sich die Forschung mit den Ehrenamtlichen beschäftigt hat, reduziert sie deren Funktion meistens auf diejenige der Disziplinierung. Renate Hürtgen vermag anhand von riesigen Materialmengen, die sie durchgearbeitet hat, zu zeigen, dass dieser Befund ergänzungsbedürftig ist, weil sich die Funktion der Vertrauensleute stark verändert hat.

Vergröbert zusammengefasst gibt es in der Geschichte der gewerkschaftlichen Vertrauensleute zwei Phasen. Direkt nach dem Krieg dominierten unter den Vertrauensmännern noch ehemalige Betriebsräte und Obleute, die schon vor 1933 gewerkschaftlich und politisch tätig waren. Sie wurden jedoch im Laufe der 50er-Jahre abgelöst von jüngeren Arbeitern, die nicht aus der gewerkschaftlichen Tradition der Arbeiterbewegung stammten, sondern aus der HJ und nach dem Krieg lediglich eine oberflächliche Umerziehung und Umschulung erhalten hatten.

Die zweite Phase begann nach dem Mauerbau 1961. Der betriebliche Alltag in der DDR geriet immer stärker unter die Vorherrschaft der Partei, während die gewerkschaftlichen Vertreter an den Rand gedrängt wurden. Mit der wirtschaftlichen Modernisierung verbunden war auch eine strikte Trennung von technisch-organisatorischen Leitungsfunktionen und gewerkschaftlicher Vertretung. In der Leitung der Betriebe hatten die gewählten Vertrauensleute nichts zu sagen und waren oft kaum mehr als ein dekoratives Element bei Betriebsfeiern. Die Folge war ein zunehmender Funktionsverlust.

Die Vertrauensleute schienen auf dem besten Weg, „funktionslose Funktionäre“ zu werden, denn zeitweise gab es keine betrieblichen Vertrauensleuteversammlungen mehr und zwischen den hauptamtlichen Funktionären der „Betriebsgewerkschaftsleitung“ und den betrieblichen Vertrauensleuten existierten keine institutionalisierten Kontakte, sondern nur sporadische. So hatten die Vertrauensmänner praktisch keinen Einfluss auf die Ausgestaltung des immer wichtiger werdenden Prämiensystems als Leistungsanreiz.

Gegenüber der „größeren Kompetenzzuweisung an die Betriebsleiter und die technische Intelligenz“ gerieten die Gewerkschaften im Zuge der Durchsetzung des „Neuen Ökonomischen Systems der Planung und der Leitung der Volkswirtschaft“ in die Defensive. Der FDGB kämpfte nicht um seinen Einfluss, sondern begnügte sich dienstfertig mit einer Nebenrolle im Spiel, das Staats- und Parteibürokratie dirigierten. 1968 wurde das Streikrecht aus der Verfassung gekippt. Gab es 1960 noch 160 Arbeitsniederlegungen, so waren es 1978 noch ganze 15 und 1984 gar keine mehr. Renate Hürtgens Resümee: „Kollektives Auftreten gegen Leitungsentscheidungen verschwindet.“ Arbeitskonflikte existierten für das „monströse Berichtswesen“ der FDGB-Bürokratie nur noch als „besondere Vorkommnisse“.

Wie es dazu kam, erklärt Renate Hürtgen bündig aus dem „Doppelcharakter“, der die DDR nach der Ablösung Walter Ulbrichts durch Erich Honecker 1971 charakterisierte. Das Land kennzeichnete seither und bis zu seinem Untergang einerseits eine zunehmende Militarisierung und Überwachung und andererseits ein ständig steigendes Angebot an Konsumgütern. Dennoch war die DDR weit entfernt von einer egalitären Gesellschaft, denn das Gefälle zwischen den einzelnen Beschäftigten- oder Qualifikationsgruppen blieb bestehen.

Auf diesem Feld machten sich die Gewerkschaften Ende der 70er- und in den 80er-Jahren zum Anwalt „ausgleichender Unterschiede“ und „mehr Gerechtigkeit in der Verteilung“. Mit dem Arbeitsgesetzbuch von 1977 erhielten die Funktionäre der Betriebsgewerkschaftsleitung zwar mehr Einfluss auf die Verwendung der Prämien-, Kultur- und Sozialfonds, aber sie bezahlten dies mit noch stärkerer Integration in den Staat und vor allem mit der Hinnahme von Inaktivität und zunehmender Interesselosigkeit der Mitglieder.

Im Prinzip oblagen den Vertrauensleuten auch Aufgaben der politischen und ideologischen Schulung. Deren Bedeutung war jedoch eher marginal oder trug geradezu skurrile Züge, wie die informative Studie von Renate Hürtgen zeigt. 1976 machte das gesamte Ballettensemble der Deutschen Staatsoper einen Schnellkurs über das „Kommunistische Manifest“ und wandte sich dann letzten Fragen zu: „Kann die Arbeiterklasse in der BRD die Macht übernehmen?“

Renate Hürtgen: „Zwischen Disziplinierung und Partizipation. Vertrauensleute des FDGB im DDR-Betrieb“. Böhlau Verlag, Köln 2005, 353 Seiten, 42,90 Euro