: „They kept the money on the table“
Von England lernen, heißt verlieren lernen: Eine Bremer Delegation versucht das Geheimnis von Newcastle-Gateshead zu ergründen. Ebenso wie Bremen haben die Briten das Rennen um die „Kulturhauptstadt Europas“ verloren – und erleben derzeit trotzdem so etwas wie ein „Kulturwunder“
Von Henning Bleyl
Wer sich freiwillig um vier Uhr morgens am Zentralen Busbahnhof einfindet, dem fehlt etwas. Schlaf. Vor allem aber ein brauchbares Vorbild, wie man mit einer gescheiterten Kulturhauptstadt-Kandidatur konstruktiv umgehen kann. Das gute Dutzend fröstelnder KulturvertreterInnen, überwiegend aus der so genannten freien Szene, will sein Glück im Westen suchen: im britischen Newcastle.
In gecharterten AStA-Umzugsbussen klappert man nach Hannover, von dort geht’s mit dem Kleingeldflieger nach Nordengland. Newcastle und Gateshead, nur durch einen Fluss getrennt und eigens für die gemeinsame Bewerbung liiert, haben vor zwei Jahren gegen Liverpool verloren. Trotzdem können sie mit verheißungsvollen Zahlen aufwarten: Über 80 Millionen Euro werden für ein auf sieben Jahre angelegtes Kulturprogramm ausgegeben, ein spektakulärer Kunst-Neubau nach dem anderen öffnet in der früheren Armuts-Region. Ökonomische Effekte: Die frühere Spitzenposition in Sachen Arbeitslosigkeit ist auf 6,3 Prozent gedrosselt, die Hotelauslastung von knapp über 50 auf satte 75 Prozent gestiegen. Und das, obwohl in den vergangen fünf Jahren 1.200 Gästezimmer hinzukamen. Fast jeder zweite Uni-Absolvent bleibt der Stadt erhalten, die englandweit höchste Quote. Nach langen Jahren der Abwanderung ist die Einwohnerzahl jetzt stabil: 260.000 in Newcastle, 190.000 in Gateshead. So etwas muss man sich näher ansehen.
Erster Gesprächspartner vor Ort ist Andrew Dixon, der Martin Heller von Newcastle. Er hat die Bewerbung vorangetrieben, bis zum unerwarteten Ausscheiden. „It was a miserable moment“, sagt Dixon – die Bremer kennen das. Seine Kollegin Suzy Goulding fügt hinzu: „Es war das beste, was uns passieren konnte.“ Das kennen die Bremer nicht. Hier aber gibt man sich überzeugt, dass das auf sieben Jahre angelegte Nachfolgeprogramm „culture10“ – so genannt wegen der Laufzeit bis 2010 – viel produktiver ist, als die Konzentration auf das britische Hauptstadtjahr 2008 hätte sein können.
„Vor zehn oder 15 Jahren fand hier niemand die Kultur wirklich wichtig“, sagt Dixon. „So we had to build the organisations as well as the buildings.“ Letztere sprießen derzeit geradezu aus dem Boden. Die Bremer laufen von Neubau zu Neubau, zum Beispiel zu „Dancecity“, einer Mischung aus Tanzwerk und Schwankhalle. Im Augenblick arbeiten hier elf Festangestellte, demnächst würden es 18 sein, erläutert Pete Huggins, selbst seit 30 Jahren dabei. „Müssen die nicht nebenher noch andere Jobs machen?“, fragt eine Schwankhallen-Mitarbeiterin ungläubig. Müssen sie nicht. Und der Neubau ist wirklich ein architektonisches Prachtstück.
Weiter zum siebenstöckigen Kinder-Literaturhaus, gerade für 12 Millionen Euro fertig gestellt. Hier liegen unter anderem 100 Märchenkostüme bereit. Wer hat das nur alles bezahlt?
Einem Kulturphönix gleich scheint sich das Städtepaar aus schwärzester Kohleasche aufgeschwungen zu haben – oder ist die Vergangenheit nur ein Negativ-Konstrukt, finster gemalt, um die jetzige Entwicklung umso heller leuchten zu lassen? Nein. Schon seit den 60ern ging es mit Bergbau und Werften steil bergab, dass Margaret Thatcher in ihrer eisernen Art in den Achtzigern die letzten Subventionen abdrehte, gab Newcastle und Gateshead nur den Rest. Die zentrale Avenue, benannt nach Tee-Pionier Earl Grey, machte seinem Namen offenbar alle Ehre. Der Tyne sei eine Kloake gewesen, seine Ufer „dirty, dark and dangerous“, sagt Jim Beirne, der es wissen muss. Sein marxistisch angehauchtes „Live Theatre“ war 20 Jahre lang die einzige kulturelle Einrichtung am Fluss. Wie wenig eine Verbesserung absehbar war, zeigen die damals zugebilligten Konditionen: 2.000 Pfund für 125-jährige Nutzung. Jetzt erzählt Beirne: „Wir bauen für sieben Millionen Euro auf die doppelte Größe aus.“
Am beeindruckendsten aber ist die neu eröffnete Performance Academy (30 Millionen Euro). Ein bis ins Letzte durchkonzipierter Bau, dessen Funktionalität den inhaltlichen Ansatz widerspiegelt: Die Ausbildung von Künstlern, Technikern, Medienschaffenden und -managern soll maximal verzahnt verlaufen. Selbst der 12 Meter-Metalltisch im Foyer ist Konzept: Hier sitzen automatisch alle zusammen, statt sich in kleine Studiencliquen aufzuteilen.
Angesichts immer neuer Räume voller Rechner, Keyboards und Studiotechnik – alle drei Jahre soll die Ausstattung komplett ausgetauscht werden, wie Vee Wilkinson, die enthusiastische Direktorin, erläutert – werden die Bremer Gesichter lang. „Unser Mischpult wär’ hier höchstens noch Demonstrationsobjekt“, murmelt die Frau vom Theaterkontor. „Wir wollen jetzt nicht depressiv werden“, gibt die mitgereiste Kulturamtsleiterin als Devise aus. Was bleibt als Anregung haften? „Das extrem praxisorientierte Konzept“, sagt Margit Hohlfeld. „Bei uns würde das ein enormes Umdenken erfordern – weg von der klassischen Hochschule.“
Jetzt muss aber mal ein Kontrapunkt gesetzt werden. Gibt es hier keine unzufriedene Kunstszene, keine Kritiker und Zukurzgekommenen? „Not all artists would say positiv things“, bestätigt Dixon. Zum Beispiel die nicht, deren Beiträge für „culture10“ abgelehnt wurden. Weil die Festivals nämlich „ein Mindestmaß an Menschen“ anziehen sollen. Das beliebteste Adjektiv in diesem Zusammenhang scheint „world-class“ zu sein. Im laufenden Jahr stehen 18 Millionen Euro zur Verfügung, von denen u.a. vier große Festivals finanziert werden. Derzeit läuft „Visual Arts“, das „Festival of Music“, das mit der Eröffnung von Norman Fosters gewaltiger Konzerthalle am Flussufer („The Sage“) begann, wurde ohnehin als ganzjährig deklariert. Die Wiener Philharmoniker haben sich dazu angeblich selbst eingeladen, ein untrügliches Zeichen der neuen Zeit. Allerdings seien die Tickets unerschwinglich gewesen, seufzt der kommunale Kulturbeauftragte: „Kulturförderung stelle ich mir eigentlich anders vor.“ Immerhin ist das „Sage“ mit seinem riesigen Foyer 16 Stunden am Tag geöffnet, quasi als ein Stück überdachter Uferpromenade. Und im Untergeschoss tobt reges Musikschul-Leben.
Die Bremer lernen begeisterte KulturmacherInnen kennen, die ihre lang gehegten Projekte trotz Hauptstadtpleite verwirklicht sehen. Immer wieder fällt der magisch anmutende Satz: „They kept the money on the table.“ Wer sind bloß diese famosen „they“, von denen man in Bremen auch gern ein paar hätte? Zum Beispiel die Northern Rock Foundation: Die Stiftung der Regionalbank stand ebenso zu ihren Pfund-Versprechungen wie der Software-Entwickler Sage, die National Lottery, das zentral finanzierte Arts Council und die EU. Die kommunalen Kulturhaushalte müssen nur 500.000 Pfund pro „culture10“-Jahr beisteuern, was sieben Prozent im Newcastler Kulturetat ausmacht.
Die Bremer fühlen sich wie auf einem fremden, millionengeschwängerten Planeten. Ihr Hauptstadt-Etat hätte im Erfolgsfall 60 Millionen Euro beinhaltet. Die Briten hatten mehr als das Zehnfache eingeplant, von diesen 684 Millionen sind immerhin 80 übrig geblieben. Dahinter steht konsequentes thinking big: „20 Millionen zu bekommen wäre auch nicht leichter gewesen“, meint Andrew Dixon. „And people would not have seen the vision.“
Offenbar war ein derart konzertierter Finanzakt nur möglich, weil Newcastle und Gateshead wesentlich weiter unten waren, als Bremen je gewesen ist. Bezeichnenderweise ging die Initiative von der (einstmals) hässlichen Schwester von jenseits des Flusses aus, dem noch ärmeren Gateshead. Dort habe eine starke Seilschaft im City Council die kulturelle Zielvorgabe durchgesetzt, formuliert Theatermann Beirne mit einer Mischung aus Anerkennung und immer noch vorhandener Verblüffung. By the way: Warum eigentlich hat man den Titel nicht gewonnen? Die – erstmal wohlfeil klingende – Erklärung lautet: „Liverpool hatte es nötiger. Wir waren schon zu weit.“ In Bremen muss man nach anderen Gründen suchen.
Angefangen hat alles mit dem „Angel of the North“ – so lautet der Gründungsmythos des neu geborenen Städteduos. Eine 20 Meter hohe Stahlskulptur mit 54 Meter breiten Flügeln, deren Errichtung heftig umkämpft war. Der Streit erwies sich als Katalysator des Stimmungsumschwungs. Jetzt sei der „Angel“ bekannter als Big Ben, will jemand erforscht haben, als bestens eingeführtes Symbol des neuen Selbstbewusstseins. Zumindest bauten die staunenden Autofahrer irgendwann keine Unfälle mehr.
Die „NewcastleGatesheadInitiative“ betreibt eine geschickte Dramaturgie der öffentlichen Wahrnehmung: Seit 1999 gibt es alle paar Monate „landmark events“. Entweder im wörtlichen Sinn als Eröffnung wichtiger Kulturbauten oder in Gestalt der Festivals. Die Stadt schwimmt in Superlativen, die von der weltweiten ersten Hänge-Kipp-Brücke über eines der europaweit größten Zentren für zeitgenössische Kunst (das eintrittsfreie „Baltic“) bis zu Europas – nun wirklich allergrößtem – Indoor Shopping Centre reichen, dem „Metro“. Die Bevölkerung scheint mittlerweile gerne mitzumachen. Jüngstes Indiz: Als Spencer Tunick, Fotograf der nackten Menschenmengen, eine seiner „Clothes out“-Aktionen ankündigte, rechnete man mit 900 Teilnehmern. Stattdessen kamen 2.400 und zogen sich begeistert aus. Fast wie bei „Ganz oder gar nicht“. „Für uns ein perfektes Event“, sagt Dixon: 50.000 Pfund Aufwand für landesweite Schlagzeilen und Bilder.
Wie wirkt das innerstädtische Kulturwunder von weiter draußen betrachtet? Auf nach Scotswood. Hier liegt die Arbeitslosigkeit noch bei 15,9 Prozent, der westlich gelegene Suburb wurde vom Strukturwandel besonders stark gebeutelt. Ganze Straßenzüge stehen leer, vernagelte Häuser warten auf Abriss. Beim Scotswood Community Project, herrscht trotzdem Optimismus. Audrey Bushell etwa gehört zu einer Einwohner-Initiative, die 800 Häuser aus dem „Demolition-Program“ herausverhandelt hat. Die Rentnerin berichtet stolz, dass man zusammen mit dem City Council einen Reurbanisierungsplan erarbeitet, der Scotswood mit neuem Leben füllen soll. Hat das etwas mit der kulturellen Neuerfindung der Innenstadt zu tun? „Aber natürlich“, ruft Mrs Bushell. Ihre Mitstreiterin Nelly Ternent nickt zumindest.
Am Ende der dreitägigen Tour ist es ausgerechnet der langjährige städtische Kulturchef, der die Besucher vor zu viel Euphorie warnt. Er würde nicht so weit gehen, sagt Paul Rubinstein – mittlerweile auch zum „Head of economic development“ ernannt – den unbezweifelbaren Aufschwung vor allem auf kulturelle Aktivitäten zurück zuführen. Die dazugehörige Aufbruchstimmung schon, aber selbstverständlich könnten all’ die verlorenen Industrie-Arbeitsplätze nicht durch Kulturbetriebe kompensiert werden. Rubinstein: „Manche hier haben zu sehr an den Hype geglaubt.“ Etwa an die Behauptung, in den britischen Hauptstadt-Bewerberstädten hätten sich die Schulnoten signifikant verbessert. „That’s bollocks“: Durch derartigen „Quatsch“ verliere Kulturpolitik ihre Glaubwürdigkeit.
Welcher Erkenntnisgewinn reist zurück nach Bremen? Die strukturellen Parallelen verweisen noch stärker auf das Ruhrgebiet als nach Bremen – sozusagen auf die siegreiche Essener Bewerbung. Aber muss man jetzt nicht Libeskinds „Musicon“ doch mal bauen? Die Grüne Karin Krusche möchte mehr Wirtschaftsförderung in Richtung Kultur lenken, Jens Joost-Krüger vom ehemaligen Kulturhauptstadt-Büro ist vorsichtig: „Vielleicht reden die Newcastler in 10 Jahren über das ,Sage‘ wie wir jetzt über den Spacepark.“
Das Bremer „Weltspiel“ will den Erfahrungstransfer jedenfalls verstetigen: Weitere Gruppen sollen nach Newcastle reisen, vor allem mit Vertretern aus Politik und Wirtschaft. Der Titel dieses Inspirations-Projekts: „Changing Minds“.