Das Glück des Scheiterns

THEATER Die Landesbühne Nordwest in Wilhelmshaven begeht ihr 60-jähriges Jubiläum mit ambitionierten Ur- und Erstaufführungen und wild-experimentellem Spielplan

VON BENNO SCHIRRMEISTER

Provinz ist immer auch eine Irritation der Maßstäbe: Die Landesbühne Nordwest, deren Hauptspielstätte in Wilhelmshaven liegt und der die theatrale Grundversorgung von den Ostfriesischen Inseln bis in die katholischen Moore des Emslands mit 700.000 EinwohnerInnen obliegt, feiert ihr 60-jähriges Bestehen. Ihr Intendant, der kühne Gerhard Hess, geht nach seiner 15. Spielzeit vorzeitig in Ruhe.

Zum Fest gibt’s dort eine polnisch-deutsche Ur- sowie eine Deutsche Erstaufführung, nämlich „Bromberg/Bydgoszcz“ von Katharina Gericke und Artur Palyga sowie „Das System Ponzi“ des französischen Dramatikers David Lescot, zwei Premieren am ersten Novemberwochenende. Zum Abschied hat sich Hess einen wild-experimentellen Spielplan gezimmert, mit einer von Mardi Gras BB-Sänger Jochen „Doc“ Wenz arrangierten Fassung von Alfred Jarrys „König Ubu“, mit Hans Henny Jahnns sperrigem Antiatom-Opus „Die Trümmer des Gewissens“ von 1959 sowie einer neuen Politsatire von Peter Schanz, „Der OB von O.“, die Vorgänge in Wilhelmshavens Nachbarstadt aufgreift. Man müsste jubeln – und doch ist die Reaktion oft bang: Ja können die denn das?

Natürlich nicht. Will sagen: Hier ist Theaterproduktion klar mit dem Risiko des Scheiterns behaftet. Aber das ist die Voraussetzung dafür, dass die Bühne mehr ist als ein reiner Abspielort für Unterhaltung: ohne Wagnis keine Kunst. Andererseits: Das Risiko des Scheiterns ist hier besonders hoch, schon aus materiellen Gründen. Der Jahresetat von 5,5 Millionen Euro ist ein Drama für sich, zumal die Eigenfinanzierungsquote bei beinahe 50 Prozent liegt. Und dann kommt es eben zu so bitteren Momenten wie der Deutschen Erstaufführung von „Das System Ponzi“ am Samstag.

Biografie eines Betrügers

Zu einem dichten Bilderbogen hat David Lescot die Biografie des Jahrhundertbetrügers Carlo Ponzi (1882–1949) komponiert, der so etwas ist wie der Erfinder der Börsenblase. Anfang 1920 baute er in Boston einen Postwertscheinhandel mit irrsinniger Verzinsung auf, akquirierte dafür 40.000 Kunden, die mehr als 15 Millionen Dollar zahlten. Sein Schema – die Zinsforderungen der Altanleger mit Einlagen der Neukunden zu begleichen – praktizierte bis zum Platzen im Dezember 2008 noch der damalige Nasdaq-Chef Bernard L. Madoff, der damit einen ähnlich hohen Schaden wie die Insolvenz der Lehman-Bro’s verursachte.

Lescots Stück ist poetisch, unternimmt Ausflüge ins Surreale, pflegt einen hintersinnigen Humor und orchestriert mehr als 70 Rollen. Auf die Bühne gebracht aber hat es Oberspielleiter Olaf Strieb. „Das Ergebnis ist wirklich eine logistische Meisterleistung“, sagte er. Und damit ist schon alles gesagt.

Beklommen macht angesichts eines solchen ästhetischen Totalversagens, dass man Strieb, der bislang mit Klamotten wie „Ein Käfig voller Narren“ auffällig wurde, als Hess’ Nachfolger ausgerufen hat. Ohne Ausschreibung allerdings. Das war legal, war von Hess sogar selbst so vorgeschlagen und lässt sich auch strategisch nachvollziehen. Denn für die im Theaterzweckverband zusammengeschlossenen Kommunen ist von Bedeutung, in die anstehende Finanzverhandlungsrunde mit dem Land Niedersachsen mit einem neuen, starken Chef zu gehen, der für die eigene Zukunft kämpft – und nicht mit einem designierten Ruheständler.

Anderer Theaterverstand

Da scheint indes ein anderer, nicht gerade innovativer Theaterverstand das Ruder zu übernehmen. Was den von Hess auszeichnet, ist seine Pflege von AutorInnen und sein Festhalten auch an komplexen Projekten – das war am Sonntag zu bewundern. Denn das im Laufe einer dreijährigen Kooperation entstandene Kammerspiel Bromberg/Bydgoszcz könnte wohl auch in einer Metropole bestehen. Unter Wahrung der historischen Distanz, ohne eine Rekonstruktion zu versuchen, widmet es sich jenen Ereignissen von Anfang September 1939, die so sehr von wechselseitiger Propaganda überkrustet sind, dass bis heute nicht klar ist, was genau geschah.

Im Landkreis Friesland wurden viele der aus ihrer Heimatstadt Bromberg Geflohenen nach 1945 angesiedelt. Und 2009 gab es in Wilhelmshaven tatsächlich ein organisiertes bilaterales Überlebenden-Treffen: Dessen mitunter hilflos rührende Sühnezeichen-Rhetorik aufgreifend, haben die AutorInnen Artur Palyga und Katharina Gericke mit AkteurInnen des Teatr Polski Bydgoszcz und aus Wilhelmshaven ein mehrsträngiges Bühnengeschehen entwickelt, das kein Sprechstück ist – die kunstvoll verschränkten parallelen Reisen eines polnischen Vaters mit seinem Sohn und einer deutschen Brombergerin zur Versöhnungskonferenz bilden die äußere Handlung –, aber doch eines, in dem das Sprechen, die Sprachen und ihre gegenseitige Fremdheit plastisch auftreten und als eigenständige, als Hauptfiguren agieren: klassisches Aneinander-vorbei-Sprechen, klar doch, aber eben auch die klangliche Differenz bei inhaltlicher Identität oder scheinbar zufällige Kommentare des fremdsprachlichen Inhalts, Scham und Wut und enttäuschende Verwechslung. Zur zentralen Figur wird dabei die Dolmetscherin Dora, die, atemberaubend souverän von Kathrin Ost gespielt, an den metaphysischen Trost der Übersetzung glaubt, der tragisch – und beglückend – scheitert.