Der Wahnsinn der Väter

Großes Theater: Armin Petras inszeniert „Das Versprechen“ nach dem Kriminalroman von Friedrich Dürrenmatt am Hamburger Thalia-Theater. Gegen den Ernst der Vorlage arbeiten die Schauspieler hart an – mit Slapstick, Musik- und Tanzeinlagen

von SIMONE KAEMPF

Der Polizeikommissar hat eine Dorftankstelle gemietet. Er nimmt die Haushälterin Laura und ihre kleine Tochter auf, die ihm heimlich als Lockvogel für einen Mädchenmörder dienen soll. Die Ermittlung dehnt sich, Monate vergehen, aus kalkulierter wird mit der Zeit echte Zuneigung zum Kind, und der Moment bahnt sich an, über sie den Weg zur Mutter zu finden. Das ist zwar nicht gerade eine intakte Ausgangsbasis für eine junge Patchworkfamilie, aber wo so brüchige wie freiwillige Grundlagen des Zusammenlebens herrschen, ist der Regisseur Armin Petras in seinem Element. Bei ihm ersetzen schon die Onkel aus dem Knast mit Würde die Väter, die in den Westen rübergemacht haben. Ob es gut geht, ist eine andere Frage.

Auch an der Dorftankstelle ist das nicht anders. Hier toben sich die Sehnsüchte, Hoffnungen, Sorgen und alltäglichen Geschichten in einem geschlossenen Mikrokosmos aus – berührend, witzig und sentimental. Petras hat es wieder geschafft, einen riskanten Stoff ins Visier zu nehmen und in den Brüchen von Dürrenmatts Kriminalroman „Das Versprechen“ die familiären und emotionalen Schmerzpunkte wachsen zu lassen.

Es geht um den Abschied von der Kindheit genauso wie um die lieb gewonnenen Träume und Leidenschaften der Erwachsenen. In die Verabschiedungsfeier für den Kommissar platzt die Nachricht, dass im Wald eine Mädchenleiche gefunden wurde. Aus einem Verdächtigen wird zwar ein Geständnis herausgepresst, doch der Kommissar zweifelt, ob der wahre Schuldige gefunden wurde. Bei seinem Seelenheil hat er der Mutter des toten Kindes versprochen, den Mörder zu finden, und bezieht als Ermittler auf eigene Faust schließlich die Tankstelle. Mit Mutter und Kind lässt er sich nieder, als wär's in Wirklichkeit die heile Welt. Gestrichen ist die Pointe, dass sein Warten sinnlos wird, weil der Serienmörder auf dem Weg zur Tat bei einem Autounfall stirbt. Es passiert auch sonst Schicksalshaftes genug. Die Geschichte wird über weite Teile allerdings mehr nacherzählt. Von Chrissi, die als Kind der Köder war und jetzt als junge Erwachsene anders tickt: melancholischer, ernster, eine rauchende Kellnerin, die die Stühle hochgestellt hat und sich erinnert an Geburtstagskuchen, Spielen im Schnee, die Mutter, die die Zöpfe flicht. So verschieben sich durch die Heranwachsenden-Perspektive (bei Dürrenmatt berichtet ein Polizist als Icherzähler) geschickt die Akzente hin zur Beschreibung einer zerbrechlichen Gemeinschaft auf Zeit. Kaum gelebt ist sie schon wieder zur Erinnerung verronnen.

Gegen den ernsten, manchmal herzzerreißend-traurigen Erzählstrang müssen die Schauspieler hart anarbeiten. Komödiantische Brechungen sind auch an diesem Abend garantiert. Die Mischung aus Slapstick, Musik- und Tanzeinlagen, unwichtigen und Schlüsselerlebnissen gibt den Rhythmus vor, und es steht ein Ensemble auf der Bühne, das sich schon in anderen Petras-Inszenierungen bewiesen hat. Thomas Schmauser als Tobi macht in einer Paradenummer den Kühlschrank zum Schlitten, der ihn in die Welt hinaustragen könnte. Man fühlt mit Fritzi Haberlandt, wenn sie zappelig am Geburtstagstisch sitzt, als könnte sie sich heute ihren heimlichen Wunsch erfüllen und die ménage à trois zur richtigen Familie verkuppeln. Peter Kurth als Kommissar agiert mit der Wortkargheit eines Familienvaters im Fernsehsessel: präsent, aber regungslos. Kein dramatisches Schwergewicht, der Abend erfährt von allein seine Zuspitzung. Je mehr die Kleinfamilie zusammenwächst, desto näher rücken Verrat und Treuebruch, wenn der Mörder in die Falle tappt.

Am eindrücklichsten wird es dort, wo greifbare Figuren entstehen. Das heißt, wo Petras improvisieren lässt, wo er aus den Verweisen auf die Verfilmung – nicht auf die mit Heinz Rühmann, sondern auf „The Pledge“ von Sean Penn – Figuren findet, die er einem so unpathetisch ans Herz legt, dass man sie sofort annimmt. Die blutende Ehefrau etwa, die ihren prügelnden Exmann nicht anzeigt, um den Unterhalt nicht zu verlieren.

Aber nicht alle Väter sind schwach oder abwesend. Einer kriecht verzweifelt in seine Rolle, imaginiert sich die Tochter, die er seit fünf Jahren nicht gesehen hat, und gewiss ist ihm einzig, dass dem Kind das rote Kleid nicht mehr passen kann, das es zuletzt trug. Eine Szene, die die Sehnsucht nach dem Verschwundenen nicht verhehlt und dem Wahnsinn der Väter ein schmerzhaftes Gesicht gibt: Sie können wie die Kinder nicht vergessen. Wie Petras davon erzählt, ist großes Theater.