Ein Markt aus massenhaft vielen Nischen

Gleich ob Stände, Rahmenprogramm oder Partys: Bei der Berliner Popkomm fiel alles etwas kleiner aus als früher in Köln

Am Freitag, dem dritten und letzten Tag der zweitgrößten europäischen Messe für populäre Musik, betrat Patrick Wagner das Messegelände am Berliner Funkturm und blickte in die Runde. Angesichts der dreieinhalb, überschaubar gefüllten Hallen fragte der Musiker, Labelchef und stadtbekannte Großsprecher: „Ist das alles hier?“

Wagner, der früher eine Rockstarkarriere mit seiner Band Surrogat zu simulieren versuchte, dann bei einer großen Plattenfirma arbeitete und nun mit seinem eigenen Indie-Label Louisville recht erfolgreich ist, war selbst nicht einmal akkreditiert auf der Popkomm, sondern nur als Teilnehmer einer Podiumsdiskussion geladen. Andere aber waren gekommen und summierten sich zu erst einmal eindrucksvollen Zahlen: 15.000 Messegäste, 796 Aussteller aus 48 Ländern, 20 Prozent mehr als im Vorjahr. 400 Stunden Musik in 29 Clubs mit 1.500 Künstlern aus 23 Ländern. Wenn man etwas genauer hinsah, relativierte sich der Gesamteindruck allerdings: Viele wichtige Labels fehlten, selbst von den vier den Markt beherrschenden Major-Plattenfirmen waren nur zwei mit einem Stand anwesend, Sony-BMG und EMI hatten dankend verzichtet.

Am Stand des Vertriebs Groove Attack bekommt man eine Compilation von VP Records mit auf den Weg, das Versprechen, dass das jamaikanische Label fortan keine Songs mit homophoben Texten mehr veröffentlicht, und die Einschätzung, dass es wie früher, als die Messe noch in Köln residierte, „um Kontaktpflege“ geht. Uwe Adelfang, Leiter der Exportabteilung und früher beim inzwischen Pleite gegangenen Indie-Vertrieb Efa, hat bis auf die erste Popkomm vor 17 Jahren keine einzige ausgelassen. Er glaubt, eine „Aufbruchstimmung“ zu erkennen: „Alle haben ihre Kosten konsolidiert.“ Anders gesagt: Man hat sich gesundgeschrumpft.

Im Vergleich zu Köln ist alles zwei, drei Nummern kleiner geraten: die Stände, das Rahmenprogramm, die Partys, der ganze Anspruch. Früher, erzählt ein altgedienter Journalist, zog Popkomm- und Viva-Erfinder Dieter Gorny einem Sonnenkönig gleich durch die Hallen in Köln. In Berlin biegt man um eine Ecke, und da sitzt derselbe Gorny als Diskutant auf einer Bühne; er wirkt wie ein Alkoholiker, der sich aufs Podium verirrt hat. Die Aura ist weg.

Realismus ist eingekehrt. Die Herangehensweise der Fachbesucher an die Popkomm hat sich verändert. Früher feierte man vornehmlich sich selbst und den Erfolg. „Köln war zu viel des Guten, zu viel Geprahle, zu viel Selbstbeweihräucherung“, meint Andreas Kohl von Southern Records, in Berlin „machen wir acht Stunden am Tag business“. So wird die Messe doch noch zur Messe, wenn auch mitunter schleppend. Die Mitarbeiterin eines der großen Unterhaltungskonzerne berichtet, dass zwar viele interessierte Musiker und Produzenten an den Stand kämen, um sich vorzustellen. Leider könnte man die Interessierten nicht an die dafür eigentlich zuständigen Artists- und Repertoire-Mitarbeiter vermitteln, denn die haben sich ihre Terminpläne voll gestopft mit Menschen, die sie eh schon kennen. Auch Hitproduzent Mousse T. findet: „Das Schönste an der Popkomm ist, dass ich hier alte Freunde treffe.“ Manch einer hat das wohl doch noch nicht kapiert mit den neuen, geschäftsmäßigeren Zeiten.

Und die sind weiter hart: Vor wenigen Monaten noch hielt man die Talsohle für durchschritten, aber im ersten Halbjahr wurden wieder 9,9 Prozent Tonträger weniger verkauft als im gleichen Vorjahreszeitraum. Mit kosmetischen Korrekturen versucht die Musikindustrie dem neuerlichen Umsatzeinbruch zu begegnen: So wurde mit mittelgroßem Tamtam der Freitag zum Musiktag erklärt. In Anlehnung an den Donnerstag, wenn die Filmindustrie ihre neuen Produkte in die Kinos bringt, sollen künftig an diesem Wochentag die Neuerscheinungen und die jeweils aktuellen Charts erscheinen. Davon erwartet sich Gerd Gebhardt, Vorsitzender der deutschen Phonoverbände, allen Ernstes „neue Impulse für den Musikmarkt“.

Für den können neue Geschäftsfelder aber nur mühselig erschlossen werden: „Mobile Music“ war diesmal eines der Schlagworte, demnächst kann man sich aktuelle Hits ohne Umweg übers Internet direkt aufs Handy laden. Vielleicht gibt es den Hit ja aber auch als Dreingabe zum Klingelton vom selben Song. Jamba! allerdings war nicht mit einem Stand vertreten, auch wenn der Branchenriese Universal 30 Prozent seines Umsatzes, so wird kolportiert, bereits mit Klingeltönen macht. Bis 2008 sollen mehr als 80 Prozent der Handys Musik abspielen können, der Markt mehrere hundert Millionen stark sein.

Solche Zahlen schwirren wie schwerelos durch die Hallen, glauben muss man sie alle nicht. Denn das Geschäft mit der Musik wird immer unvorhersehbarer, weil, wie der Schweizer Vordenker Gerd Leonhard beim Panel „Podcasting ist sexy“ verkündete, wir gerade beobachten dürfen, „wie ein Massenmarkt mutiert zu einem Markt aus massenhaft vielen Nischen“. Mit diesem verändernden Markt wird sich sicherlich auch die Popkomm weiter verändern. Fragt sich nur wie – und Patrick Wagner schwant bereits etwas: „Demnächst dann in einer Turnhalle?“

THOMAS WINKLER