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Archiv-Artikel

Das Böse besiegen

MÄRCHEN Bei den Märchentagen wird man auch hören, dass es in den Geschichten recht grimmig zur Sache gehen kann. Dabei denkt man nicht nur an die Brüder Grimm, die vor 200 Jahren ihre Märchensammlung vorlegten

Poetische Bewältigung von Schrecken und Angst

VON BARBARA BOLLWAHN

Es ist ein einziges Grauen: Schneewittchen lässt die Königsmutter auf ihrer Hochzeit in rotglühenden Schuhen so lange tanzen, bis diese tot umfällt. Eine Hexe mästet Kinder, um sie zu braten. Der Wolf frisst die Großmutter und das Rotkäppchen.

Auch wenn in vielen Märchen besonders brutale Szenen im Laufe der Jahre entschärft wurden, geht es nach dem harmlosen Satz „Es war einmal …“ bisweilen noch immer ganz schön zur Sache. Bei den 23. Märchentagen wird Gewalt in Märchen nicht ausgespart, sie wird sogar zum Thema gemacht. Ein neues Format feiert Premiere, der „Tatort Märchen“. Viele Märchen beginnen mit einem Verbrechen: Mädchen werden von Zauberinnen entführt, Kinder von ihren Stiefmüttern verjagt, Prinzen in Raben verwandelt. Und die Märchenhelden machen sich dann auf den Weg, das Böse zu besiegen, indem sie Prüfungen bestehen und schwierige Rätsel lösen.

Beim „Tatort Märchen“ ist neben Schauspielern aus Krimiserien wie „Der letzte Bulle“ oder „Der Alte“ auch Berlins Polizeivizepräsidentin Margarete Koppers dabei. Sie wird in der Polizeihistorischen Sammlung Märchen der Gebrüder Grimm vorlesen. In der im Präsidium am Platz der Luftbrücke beherbergten Sammlung sorgen unter anderem Tatwerkzeuge blutiger Verbrechen aus acht Jahrhunderten für den „märchenhaften“ Rahmen.

Die diesjährigen Märchentage stehen ganz im Zeichen 200 Jahre „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm, in deren Märchensammlungen es mitunter ziemlich brutal zugeht.

Wie verkraften Kinder Mord und Totschlag in Märchenbüchern? Für diese Frage ist bei den diesjährigen Märchentagen Werner Röcke zuständig, Professor im Ruhestand und Präsident der Grimm-Sozietät. Unter dem Titel „Das Spiel mit dem Grauen“ hält er einen Vortrag zur „poetischen Bewältigung von Schrecken und Angst in den Märchen der Gebrüder Grimm“.

Die 73-jährige Märchenerzählerin Nina Korn, deren Mutter bereits Märchenerzählerin war, die einzige in der DDR, nimmt „ganz schlimme“ Märchen wie „Hänsel und Gretel“ oder „Schneewittchen“ gar nicht in ihr Repertoire auf. Eltern rät sie, ihren Kindern keine blutrünstigen Geschichten vorzulesen, sondern heitere, von denen es mehr als genug gebe. Zudem sollten die Erwachsenen die Märchen vorher selbst lesen und nicht unbedingt alles wortwörtlich vortragen.

Trotzdem wird sie bei den Märchentagen ein Märchen erzählen, eins von Wilhelm Hauff, in dem einem gierigen Arzt die Hand abgeschlagen wird. Kinder laufen jedoch nicht Gefahr, von blutigen Armstümpfen zu träumen. Dieses Märchen erzählt Nina Korn für Erwachsene. Für Kinder hat sie einige ihrer Lieblingsmärchen der Brüder Grimm ausgewählt, „Der Bärenhäuter“ und „Die Gänsemagd“.

Das Motto der diesjährigen Märchentage lautet „Rotkäppchen kommt aus Berlin“. Dabei müsste es korrekt heißen „Rotkäppchen kommt auch aus Berlin“. Denn schriftlich wurde das Märchen erstmals 1697 von Charles Perrault unter dem Titel „Le petit chaperon rouge“, die Kleine mit dem roten Käppchen, veröffentlicht. Die Brüder Grimm veröffentlichten die Geschichte im ersten Band ihrer Kinder- und Hausmärchen aus dem Jahr 1812. Doch Berlin war für die in Hessen geborenen Brüder ein Schaffensmittelpunkt. Hier war der Sitz ihres Verlages, hier lebten und forschten sie bis zu ihrem Tod, hier sind sie, in Schöneberg, begraben.

Auch dieses Jahr öffnen wieder Botschaften ihre Türen und Diplomaten und Diplomatinnen werden zu Märchenonkeln- und tanten. Der Reigen reicht vom isländischen Schneewittchen über die Königin der Nattern aus Litauen bis zur Mühle des Kätzchens aus Lettland.

Wie schon seit 2005 wird vom Veranstalter der Märchentage, dem Verein „Märchenland“, ein Preis vergeben: die „Goldene Erbse“. Diese steht für Ethik und Sensibilität und wird an Menschen verliehen, die sich wie die Helden in Märchen für das Gute einsetzen. Schaut man sich einige Preisträger beziehungsweise Preisträgerinnen der vergangenen Jahre an, überkommt einen sogleich wieder das Grauen. Im vergangenen Jahr bekam Bettina Wulff die goldene Erbse, im Jahr zuvor war es Stephanie zu Guttenberg. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.