DIE GESELLSCHAFTSKRITIK : Der große Schweiger
WAS SAGT UNS DAS? Ein 19-Jähriger wurde wegen des Mordes an der 11-jährigen Lena verurteilt
Bevor David H. zum Mörder an Lena wurde, war er mehrfach wegen pädosexueller Neigungen aufgefallen – sich selbst und seiner Familie. Mutter, Stiefvater und auch der junge Mann gaben sich größte Mühe, das Schlimmste zu verhindern. David H. war in der Psychiatrie, er zeigte sich danach selbst an, der Stiefvater brachte sogar die Festplatte mit den Kinderpornos aufs Revier. Und doch ging alles schief. Die Polizisten unternahmen praktisch nichts, um den Hilferuf des späteren Mörders wahrzunehmen: Keine erkennungsdienstliche Behandlung, keine Speichelprobe, der Durchsuchungsbefehl lag bereit – wurde aber nicht ausgeführt.
Dieses Desaster hätte zu einem Lerneffekt führen können. Denn es trat der schneidige wie sensible Innenminister Uwe Schünemann (CDU) auf. Schünemann ist ein Macher, er hat mit dem Bündnis „White IT“ gezeigt, dass er ungewöhnliche Wege zu gehen bereit ist – etwa um sexuelle Gewalt, die durch das Netz entsteht, einzudämmen.
Schünemann sortierte zu Beginn sehr präzise die Handlungsstränge: Mitleid mit den Betroffenen äußern, individuelle Fehler der Polizisten und strukturelle Fragen im Umgang mit sexueller Gewalt in Sicherheitsbehörden identifizieren. Das war vor sieben Monaten. Wer heute mit Schünemanns Stab spricht, kann nichts mehr von alledem entdecken. Die Sprecher weisen seit Wochen robust Anfragen zurück. Die schnelle und umfassende Aufklärungsarbeit ist nicht mehr als Dienst nach Vorschrift: Die Polizeidirektion Osnabrück geht disziplinarisch gegen acht Beamte in Aurich und Emden vor. Wird es einen Strukturbericht über den Umgang mit sexueller Gewalt geben? Eine Sprecherin Schünemanns: „Nicht nötig.“
Die Öffentlichkeit hätte gern gewusst, wieso polizeiliche Abläufe derart unprofessionell gestaltet sind, dass ein junger Mann zum Mörder werden kann. Und warum die Menschen in Emden vor Wut fast die Polizeiwache gestürmt hätten. Doch darüber wissen wir nichts am Tag eins nach dem Urteil (siehe Meldung Seite 9). Denn Schünemann schweigt sich aus der Verantwortung. Er versucht es jedenfalls.
Das übrigens ist nicht außergewöhnlich. Das ist normal.
CHRISTIAN FÜLLER