Was ist von diesem Mann zu halten?

Der Auftritt Gerhard Schröders in der „Elefantenrunde“ weckte Emotionen. War der Kanzler berauscht, überheblich und einfach unmöglich – oder ist er schlicht der coolste Hund, den die deutsche Politik seit den Zeiten von Franz Josef Strauß und Herbert Wehner aufzubieten hat? Zwei Standpunkte

„Ich sage Ihnen: Ich führe Gespräche. Und ich sage Ihnen voraus: Die werden erfolgreich sein … Frau Merkel wird keine Koalition unter ihrer Führung mit meiner sozialdemokratischen Partei hinbekommen, machen Sie sich da gar nichts vor … Kennen Sie die Geschichte der sozialliberalen Koalition? … Und Sie wollen uns erzählen, dass Sie gewonnen haben?“

SCHRÖDER WAR GROSSARTIG

Nach der so genannten Elefantenrunde wollte die Nation vor allem eines wissen: Was eigentlich hatte Gerhard Schröder genommen? Derart euphorisiert hatte man den Kanzler, der nach eigenen Angaben fünfzehn Bier ohne Ausfälle verkraftet, noch nie erlebt. Selbst Guido Westerwelle hatte sich während der Sendung laut gefragt, was der Kanzler wohl vor der Sendung gemacht habe – und keine Antwort bekommen.

Sie lag jedoch auf der Hand: Er hatte soeben die Wahl gewonnen. Gegen die Medien, die ihn bereits abgeschrieben hatten, gegen die Weissagungen der Demoskopie und gegen Schwarz-Gelb. Sein Körper stand schlicht unter dem Einfluss eines Drogencocktails, der sich aus körpereigenem Testosteron und Endorphinen zusammensetzte.

Jeder Mensch weiß, dass der Kick eines persönlichen Erfolgserlebnisses letztendlich besser und intensiver ist als jede künstliche Droge – Schröders Auftritt war also keineswegs peinlich, sondern menschlich. Der Mann aus kleinen Verhältnissen, das Prollkind, hatte es mal wieder allen gezeigt. All jenen versnobten Mittelstandskleinbürgern, die der Meinung sind, dass die Republik eigentlich ihnen gehört und auch, dass man einen solchen Emporkömmling wie Schröder allenfalls interimsweise ans Ruder lassen darf. Und wie früher auf dem Bolzplatz ließ er sich die Gelegenheit nicht nehmen, den vor ihm liegenden Ball einfach ins Tor zu semmeln, indem er die Regierungsbildung für sich beanspruchte: „Die sagt, sie will Bundeskanzlerin werden. Ich mein’, wir müssen die Kirche im Dorf lassen.“

Warum auch hätte er den Ball Angela Merkel überlassen sollen, die noch nicht einmal das Wahlergebnis kommentieren durfte, ohne dass Edmund Stoiber hinter ihrem Rücken Faxen machte – und das vor den Augen der Nation – einer Frau also, deren unumkehrbare Demontage bereits begonnen hatte. Aus Höflichkeit oder Galanterie? Ja, Angela Merkel wirkte wie ein Häuflein Elend. Aber nicht, weil Schröder sie despektierlich behandelt, sondern weil sie ihr Ziel nicht erreicht hatte. Und ganz nebenbei: Eine Margaret Thatcher hätte sich so etwas nicht bieten lassen.

„Ich sage Ihnen: Ich führe Gespräche. Und ich sage Ihnen voraus: Die werden erfolgreich sein“, sprach Schröder, und wahrscheinlich hat er Recht. Die SPD verfügt in dieser Konstellation über eine ziemlich starke Verhandlungsposition, auch im Falle einer großen Koalition, die nicht nur von Schröder lange angestrebt wurde, sondern offensichtlich auch von den Wählern gewünscht wird.

Nein, Schröder hatte am Wahlabend weder Tabletten eingeworfen noch anderweitige Drogen konsumiert. Sein Auftritt wirkte irritierend, so mancher Zuschauer und Kommentator unterstellte dem Kanzler sogar Anflüge von Irrationalität.

Die Verwunderung beruhte jedoch auf Schröders wuchtiger Durchbrechung aller in Politik und Fernsehen mittlerweile üblichen Regeln. Es fehlte plötzlich der von Trägheit und der Verwendung von Textbausteinen geprägte Sound der Talk-Shows. Jüngere Zuschauer, denen Willy Brandt, Franz Josef Strauß und Herbert Wehner nur noch als Geschichte gelten, waren ob solch satter Ausbrüche von Triumph und Freude erfüllt: So also kann Politik auch sein. Hier geht es ja tatsächlich um etwas, hier wird gekämpft, geholzt und gebolzt.

Und eines ist sicher: Falls es noch einmal Neuwahlen geben sollte, wird Schröder endgültig abräumen. Schon weil er so ein cooler Hund ist. MARTIN REICHERT

SCHRÖDER WAR UNERTRÄGLICH

Spätestens seit den „Liaisons Dangereuses“, den „Gefährlichen Liebschaften“ von Pierre Ambroise François Choderlos de Laclos, also seit 1782, wissen wir: „La vengeance est un plat qui se mange froid.“ (Die Rache ist ein Gericht, das man kalt auskostet.) Nun, wir wissen es – Bundeskanzler Gerhard Schröder aus Talle irgendwo in Westfalen-Lippe weiß es nicht. Vielleicht muss man das auch nicht wissen, denn Schröder, das ist klar, ist eben kein französischer Aristokrat des 18. Jahrhunderts, sondern ein homo novus, dem solche Bildungsschätze eher fremd sind. Erinnert sei nur an die überlieferte Anekdote, dass er vor der Berliner Siegessäule offenherzig bekundete, nichts vom deutsch-französischen Krieg 1870/71 zu wissen, gekrönt von seiner Frage: „Und wer hat gewonnen?“

Zugegeben, das ist jetzt ein wenig Bildungsarroganz und auch ein bisschen hässlich. Und natürlich weiß mittlerweile jede und jeder, dass Schröder eben so ist, wie er ist: Ein ziemlich brutaler Kämpfer von ganz unten auf dem Weg nach ganz oben, ein Wadenbeißer aus bildungsfernem Haushalt, ein „Alpha-Männchen“ – was immer das nun genau heißt – mit diesem Haifischlächeln und einem Machtinstinkt, den wir insgeheim bewundern. Denn, mal ehrlich, war sie nicht furios, die Aufholjagd im angeblich nun beendeten Wahlkampf, tief aus dem Umfragekeller kommend, Mehrheiten nicht, aber zumindest überraschend viele Wahlprozente auf den Markplätzen der Republik herbeibrüllend?

Und dann das: Schröders Auftritt in der „Elefantenrunde“ von ARD und ZDF. Gerade hatten wir uns noch gefreut, dass der alte Hund es wider alle Erwartung doch wieder allen gezeigt hatte: Schwarz-Gelb verhindert, ein kühner, kraftvoller, fast staatstragender Auftritt im Willy-Brandt-Haus hinter sich, in dem er seinen Führungsanspruch als Bundeskanzler, gewagt, aber nicht völlig abwegig, formuliert hatte – und dann macht er vor den Fernsehkameras, Auge in Auge mit MerkelWesterwelleStoiber alles kaputt. Im Augenblick des Triumphs hat man kühl oder cool zu bleiben, erst dadurch wird dieser Moment groß, die Rache … (siehe oben).

Stattdessen saß da als Bundeskanzler, wie er korrekt zunächst noch tituliert wurde, ein arroganter, geifernder, fast wirr brabbelnder Besserwessi mit unerträglicher Macho-Attitüde. Sicher, er hat einiges einstecken müssen in den vergangenen Monaten – und wer wollte bestreiten, dass ihn viele Medien der Republik zumindest am Anfang des Wahlkampfs hämisch runtergeschrieben haben. Nun aber zugleich und ohne klare Belege den Popanz einer irgendwie gearteten Medienverschwörung gegen sich aufzubauen, wie es der Herr Schröder tat. Die gebeutelte Gegenkandidatin herablassend abzuwatschen, dass es selbst die SPD-Frauen oder die verbliebenen Gentlemen in der Partei empören sollte. Und dann noch fast ehrabschneidend jeden anzublaffen, der seiner eigenen kruden Logik nicht folgen konnte, wonach nur er Bundeskanzler sein könne … Das alles hatte mit Chuzpe nichts zu tun, das war einfach nur peinlich. Wenn Schröder so Politik auch in den eigenen Reihen macht, will man nie auch nur einen Schritt in den Vorhof des Kanzleramts setzen.

Nun ist Politik kein Damenkränzchen. „If you can’t stand the heat, get out of the kitchen“, hat US-Präsident Harry S. Truman gesagt – und gegen witziges Rumholzen im Wahlkampf ist wenig zu sagen. Danach aber ist die Contenance zu bewahren, gerade wenn man, wie Schröder, im Bundestag zunehmend lieber den Staatsmann gibt. Aber so ist er nicht, der „Acker“. Die Verletzungen in der Kindheit sitzen wohl zu tief. Am Sonntagabend haben wir in seine Seele schauen dürfen. Was wir sahen, war nicht schön. Schade, wir hatten uns so gefreut. PHILIPP GESSLER