: Die Zeit bleibt stehen und rast davon
Unaufgeregt und klug: Im Projekt „Einstein Spaces“ nutzen Künstler die Lebensorte Einsteins in Berlin als Ausgangspunkt für Gedankenreisen
Von Treptow nach Mitte, Schöneberg, Potsdam: Man hat schon eine Odyssee hinter sich, wenn man in dem Dorf Caputh endlich aus dem Shuttlebus der „Einstein Spaces“ steigt. Albert Einsteins Sommerhaus im Rücken, geht es am Ufer des Sees einen hölzernen Landungssteg entlang und da sieht man sie zwischen den Seerosenblättern driften: zwei Floße, bestückt mit Schrifttafeln. „Einst“ steht auf dem einen, „Ein“ auf dem anderen. Sie setzen sich mal zum Eigennamen zusammen und mal zur geschichtsphilosophischen Überlegung. Man kann an Kernspaltung denken, an Wiedervereinigung und die durch die Emigration durchbrochenen Lebensgeschichten deutscher Juden.
Die Arbeit des Wiener Künstlers Franz West auf dem Templiner See formuliert die Programmatik des Projekts „Einstein Spaces“ knapp und schlicht: Vom Potsdamer Einstein Forum eingeladen, bespielen neun Künstler neun Orte, an denen Albert Einstein in seinen Berliner Jahren arbeitete und lebte. Das Einst wird sichtbar als von der Geschichte in Erinnerungsschnipsel zerbrochen. Die Gedankenvielfalt, die von den Künstlern an diese Schnipsel geknüpft wird, geht in ihrer Vielschichtigkeit weit über eine bloß biografische Forschung hinaus. Nach dem Tagesausflug zu den bespielten Räumen kennt man nicht nur den Berliner Aktionsradius des Physikers, der von 1914 bis zur Emigration 1933 hier lebte.
In der Archenhold-Sternwarte in Treptow, in der Einstein seinen ersten populärwissenschaftlichen Vortrag über die Relativitätstheorie hielt, hat der polnische Künstler Pawel Althamer den Bildungsaspekt aufgenommen und zeigt den Film „Klasa Einsteina“: Mit einer Jungsförderklasse im Warschauer Problemviertel Praga erforschte er den Reiz angewandter Physik – bis die Jugendlichen ihrer Neighbourhood begeistert zeigen, wie ein gepelltes Ei durch vakuumerzeugten Unterdruck durch einen Flaschenhals flutscht.
Minimal und sehr pointiert greifen die Lichtinstallationen von Olafur Eliasson im Potsdamer Einsteinturm und von Ann Veronica Jannsens in der ehemaligen Physikalisch-Technischen Reichsanstalt die Hauptthemen von Einsteins theoretischem Interesse auf. In der Neuen Synagoge lässt Christian Boltanksi eine Bahnhofsuhr stehen bleiben und dazu im Zehnsekundentakt die verstreichende Zeit ansagen – und stellt so die unmögliche Neuinterpretation der Vertreibung jüdischen Lebens gegen die immer größer werdende zeitliche Distanz. Wiederbelebt werden auch Orte, die es eigentlich gar nicht mehr gibt: Einsteins Wohnhaus in Schöneberg fiel den Bomben zum Opfer – Christoph Büchel stellt deswegen an eine Straßenkreuzung einfach sein Bauprojektschild, das den Austausch von Mauerteilen aus Berlin und dem Westjordanland als staatlich geförderten deutsch-israelischen „Kulturgüteraustausch“ ankündigt.
Wo früher das Büro der Menschenrechtsliga stand – Einstein war engagierter Pazifist –, türmt sich heute sozialer Wohnungsbau aus den Siebzigern. Die Künstlerin Renée Green hat sich dort in eine leer stehende Wohnung eingemietet und sie zu einem temporären Forschungslabor umfunktioniert. Und da, wo sich bis 1933 im Physikalischen Institut die Nobelpreisträger tummelten, steht heute das ARD-Hauptstadtstudio, in dem der Filmemacher Harun Farocki die Dynamik der Entwicklung moderner Waffensysteme analysiert.
Dass diese Safari als künstlerischer Kommentar zum Einsteinjahr kein leicht konsumierbarer Eventparcours, sondern eher ein in den Einzelstatements sehr reduziertes Oszillieren zwischen Erinnerungskultur und Kunstfreiheit geworden ist, macht Freude. Genauso wie die Erkenntnis, dass sich Naturwissenschaft und bildende Kunst in einem tollen Punkt treffen: einen experimentoffenen Erfahrungsraum zur Verfügung zu stellen.
KIRSTEN RIESSELMANN
Einstein Spaces, noch bis zum 30. 10. in Berlin, Potsdam und Caputh. Informationen: www.einstein-spaces.de