: „Wiederaneignung unserer Ressourcen und Identität“
BUEN VIVIR Boliviens Außenminister David Choquehuanca im taz-Gespräch über seine Philosophie eines indigen geprägten Wegs zum „erfüllten Leben“ – inklusive Genuss von Kokablättern und freund- schaftlichen Beziehungen zu Teheran
■ Außenminister: Der 51-Jährige gehört seit 2006 dem Kabinett der Regierung von Evo Morales in Bolivien an.
■ Philosoph: Er studierte in La Paz sowie Kuba und war in vielen indigenen Bewegungen aktiv. Er wuchs in der Gemeinde Huarina am Titicacasee auf und zählt zur Bevölkerungsgruppe der Aymara.
■ Buen Vivir: Choquehuanca ist einer der profiliertesten Vertreter der Philosophie des „buen vivir“, des „erfüllten Lebens“.
INTERVIEW WOLF-DIETER VOGEL
sonntaz: Herr Choquehuanca, Sie haben gerade verschiedene europäische Regierungen gesprochen, um für die Unterstützung einer Legalisierung des Anbaus der Koka-Pflanze zu werben. Sie fordern, dass die Vereinten Nationen den Konsum von Kokablättern in Bolivien akzeptieren. Warum?
David Choquehuanca: Das Kauen des Kokablattes ist ein grundlegender Teil unserer kulturellen Wurzeln. Wir nutzen Koka zudem zu medizinischen Zwecken. Nicht nur die UNO, sondern wir alle müssen lernen, unterschiedliche Kulturen zu respektieren. Ein Volk, das seine Kultur nicht verteidigt, ist dazu verdammt, zu verschwinden. Auch eine Pflanze ohne Wurzeln stirbt.
Sie haben das UN-Abkommen über Betäubungsmittel für Bolivien 2009 ausgesetzt. Ihre Regierung bezeichnet die Koka-Pflanze als „erneuerbaren, natürlichen Rohstoff der Biodiversität Boliviens und als Faktor sozialen Zusammenhalts“, der verfassungsrechtlich zu schützen sei.
Wir alle kauen Kokablätter. Warum sollten wir uns einer internationalen Konvention unterordnen, die unserer Kultur und unserer Verfassung widerspricht? Das machen auch andere UN-Mitgliedstaaten nicht. Wir fordern lediglich, dass eine entsprechende Sonderregelung in das Betäubungsmittel-Abkommen aufgenommen wird.
Dagegen stellt sich unter anderem die deutsche Regierung. Wie reagierte Ihr Kollege Guido Westerwelle, als Sie letzten Monat mit ihm sprachen?
Wir sind in den Gesprächen mit den europäischen Regierungen auf offene Ohren gestoßen. Man werde unsere Argumente an die zuständigen Behörden weiterleiten, hieß es in Berlin. Wir hoffen, dass wir mit unserem Anliegen überzeugen konnten und dass die Betäubungsmittel-Konvention aus Respekt vor unserer Kultur entsprechend geändert wird.
Die Kultur einer Bevölkerung zu respektieren zählt zu den wesentlichen Bestandteilen der Philosophie des „buen vivir“, des „erfüllten Lebens“. Was verbirgt sich sonst noch hinter diesem Konzept, dem Bolivien Verfassungsrang eingeräumt hat.
Wir wollen wieder Menschen werden, die in Harmonie mit sich selbst und dem anderen sowie im Einklang mit der Natur leben. Die Entwicklungsprogramme der westlichen Gesellschaft versuchen, ein besseres Leben zu erreichen. Wir nicht. Wir wollen ein „erfülltes Leben“ und ganz einfach wieder wir selbst sein: Aymaras, Quechuas oder andere indigene Völker. Es widerspricht dieser Philosophie, andere auszubeuten oder nicht zu arbeiten. Wenn man andere ausbeutet, mag einem das ein besseres Leben verschaffen, aber das ist eben nicht unser Ziel. Ebenso wenig zählt es zu einem „erfüllten Leben“, zu lügen oder zu stehlen. Hinter dem Konzept stecken viele Werte und eine Kosmovision, die wir uns kollektiv wieder aneignen wollen. Zugleich bieten wir diese Prinzipien in Zeiten der kapitalistischen Krise als alternativen Vorschlag an.
Also ein sozialistisches Modell mit indigenen Werten?
Im Kapitalismus ist das Wichtigste das Geld. Die Sozialisten haben zumindest das Ziel, dass die materiellen Grundbedürfnisse aller erfüllt werden. Darin stimmen wir mit ihnen überein. Im Sozialismus geht es um das menschliche Wesen, für uns steht aber das gesamte Leben im Mittelpunkt. Nehmen wir beispielsweise die Arbeit. In kapitalistischen Verhältnissen wird man bezahlt, damit man arbeitet, in sozialistischen gilt das Arbeiten als gesellschaftliche Notwendigkeit. In den indigenen Kulturen war die Arbeit ein Fest.
Eine Philosophie ist eine Sache, eine andere ist es, diese zur Regierungspolitik zu erklären. Eine Regierung sollte die Interessen verschiedener gesellschaftlichen Gruppen vermitteln: Indígenas, Campesinos, Arbeiter, die bürgerliche Mittelschicht. Gelingt das?
Im Konzept des „erfüllten Lebens“ bemühen wir uns darum, dass alle an gesellschaftlichen Prozessen teilnehmen können. Wir entscheiden im Konsens und berücksichtigen alle Gruppen: Unternehmer, Kinder, Jugendliche, Studenten, Großeltern. Der Vorschlag des „buen vivir“ schließt niemanden aus. In der Demokratie müssen sich die Minderheiten den Mehrheiten unterwerfen. Den anderen zu unterwerfen hat aber nichts mit einem „erfüllten Leben“ zu tun. Deshalb beteiligen wir alle am Dialog, das ist gewissermaßen die Vertiefung des demokratischen Gedankens.
Die Wirklichkeit sieht auch in Bolivien anders aus. So plant Ihre Regierung den Bau einer Straße quer durch das indigene Territorium Nationalpark Isiboro Sécure (TIPNIS). Das hat zu erheblichem Widerstand indigener Organisationen geführt, der sogar mit Polizeigewalt niedergeschlagen wurde. Offensichtlich ist selbst Ihre Regierung weit davon entfernt, das von der UNO anerkannte Recht der indigenen Bevölkerung auf Selbstbestimmung adäquat umzusetzen.
Auch dank uns hatte die UNO überhaupt begonnen, die Rechte der indigenen Völker zu diskutieren. Präsident Evo Morales ist einer der Impulsgeber einer Deklaration, die Bolivien als einziges Land bislang gesetzlich verankert hat. Eine Sache ist, was die Medien reflektieren, eine andere, was in unseren Gemeinden passiert. Hinter der Medienberichterstattung stecken häufig transnationale Interessen. Deshalb ist es wichtig, direkt mit den Menschen zu reden. Ich habe die betroffenen Dörfer besucht. In TIPNIS gibt es Brüder, die gegen den Bau auf die Straße gegangen sind, und andere, die für den Bau demonstrieren. Die Regierung plant nun eine Befragung. Wir wollen, dass die Indigenen so entscheiden, ob sie die Straße wollen oder nicht. Einige Anführer stellen sich dagegen, dass unsere Brüder dieses Recht wahrnehmen können. Manche sind einfach gegen alles, ihnen geht es nicht um die Straße.
Es gibt einflussreiche Organisationen, die der Regierung vorwerfen, in dieser Sache nicht die Interessen der indigenen Gemeinden zu verfolgen. Etwa der Nationale Rat der Ayullus und Markas des Qullasuy, CONAMAQ. Oder die Organisation der Indigenen des Tieflands, CIDIOP – das sind Gruppen, die lange die Bewegung von Morales unterstützten?
Die CIDOP steht weiterhin hinter Morales. Sie hat ihn zu ihrem Geburtstag nach Santa Cruz eingeladen, und wir haben gemeinsam gefeiert. Die Tatsache, dass ein paar Leute Erklärungen verfassen und einige Medien das veröffentlichen, heißt nicht, dass diese Organisationen sich vom Präsidenten entfernt haben.
DAVID CHOQUEHUANCA
Blicken wir über die konkreten Streitigkeiten hinaus. Es gibt ein prinzipielles Problem: Bolivien ist ökonomisch davon abhängig, die Bodenschätze auszubeuten, und hat zugleich den Anspruch, Mensch und Natur als eine Einheit zu betrachten und die Umwelt zu schützen. Das passt nicht zusammen.
Unsere Verfassung ist gerade einmal etwas mehr als drei Jahre alt. Der plurinationale Staat ist also immer noch ein Baby. Wir müssen es ernähren und stärken. Natürlich können wir nicht von heute auf morgen aufhören, unsere Rohstoffe auszubeuten. Indigene müssen ausgebildet werden. Wie sollten wir unsere Lehrer bezahlen? Und wenn wir das Menschenrecht auf Gesundheit durchsetzen wollen, brauchen wir Straßen und Industrien. Aber auf dem Weg des Dialogs hat es immer Wege gegeben, die Probleme zu überwinden. Wenn wir mit Bergarbeitern, Lehrern oder Bauern reden, setzt sich die Vernunft durch. Man darf nicht vergessen, dass wir große Transformationen vornehmen. Wir erleben einen historischen Prozess der Wiederaneignung unserer Ressourcen, unserer Spiritualität, unserer Identität, unserer Geschichte, unserer Musik, unserer eigenen Organisationsformen. Das dauert lange. Doch die Bevölkerung versteht zunehmend besser, dass dieser Prozess langfristig angelegt ist und das Interesse aller Bolivianer vertritt. Sie unterstützt Morales.
Die Philosophie des „erfüllten Lebens“ hat den Respekt des anderen, die Idee der Emanzipation zur Grundlage. Wie kann ein Präsident, der hinter diesen Ideen steht, das iranische Terrorregime Mahmud Ahmadinedschads verteidigen?
Warum haben die europäischen Staaten Beziehungen zum Iran?
Die europäischen Beziehungen zu Teheran sind derzeit doch eines sehr anderen Charakters als die Ihres Präsidenten.
Jeder souveräne Staat entscheidet, mit wem er Beziehungen unterhält und wie diese aussehen. Wir wollen mit allen gute Verhältnisse aufbauen. Wir müssen das tun. Für uns sind alle Menschen Teil einer großen Familie. Einige sind gut, andere sind schlecht. Wir müssen nicht alle gleich denken und dürfen auch niemanden dazu zwingen, dasselbe zu denken wie wir. Das darf kein Hindernis sein, um gute Beziehungen aufzubauen. Doch einige Oppositionelle ziehen offensichtlich über alles her, um die Regierung von Präsident Morales zu kritisieren.