Wie es sich verhält, wenn Kinder mit auf Demos gehen: Ich singe Parolen, die ich selbst nicht verstehe
G-Nervt
von Leyla Yenirce
Gerade hatte ich sprechen gelernt, als ich Sätze wie „Hoch die internationale Solidarität“ auf den Schultern meiner Großmutter mitrief. Demos, in denen wir gegen die türkische Regierungspolitik protestierten, waren praktisch unser Sonntags-in-die-Kirche-Gehen, nur dass wir ziemlich lange liefen, statt auf hölzernen Bänken abzuhängen. Aber was bedeutet es, als Kind mit Erwachsenen auf Demos mitzulaufen und Parolen zu rufen, die man selbst nicht richtig versteht?
Dass meine Großmutter eigentlich Analphabetin war und so wenig Deutsch sprach, dass auch sie nicht verstand, was etwa das Wort „Solidarität“ bedeutete, spielte für sie ebenso wenig eine Rolle wie für mich als dreijährige Dauerdemogängerin. Wir beide wussten, dass es Kurd*innen nicht einfach haben in der Welt. Deswegen setzten wir uns für unsere Landsleute ein.
Auf der „Protestwelle“ demonstrierten nun am Sonntag Organisationen wie Greenpeace, Campact oder die katholische Arbeitnehmerbewegung friedlich wenige Tage vor dem Gipfel. Im Gegensatz zur autonomen Demo „Welcome To Hell“, die am Donnerstagabend stattfindet, war es der Alternativ-Protest der Ökos und Kleinfamilien – und auch einiger Kinder.
Heute frage ich mich, ob es Sinn macht, Kinder mit auf Demos zu nehmen und sie zu politisieren, obwohl sich ihr Bewusstsein wohl erst irgendwann nach der Grundschule oder noch viel später oder im schlimmsten Falle gar nicht formt.
Mit vielen der Sprüche, die ich selbst als Kind rief und nicht verstand, würde ich heute vorsichtiger sein. Als Erwachsene muss man mit Bedacht auswählen, für welche Sache man sich öffentlich einsetzt – auch wegen rechtlicher Konsequenzen. Wenn nun Freunde davon sprechen, dass sie ihre Kinder im frühen Alter nicht taufen wollen, weil sie später selbst entscheiden sollen, stimme ich ihnen zu. Wenn Bekannte eine Demo bewusst meiden, weil sie wegen Regens einfach keinen Bock haben, finde ich das zwar faul, aber legitim.
Wer Kinder hat, muss für den Besuch einer Demo erst Mal eine*n Babysitter*in organisieren. Da ist es einfacher, das junge Kind einfach mitzunehmen. Außerdem macht es auch stolz, zu sehen, dass der Nachwuchs ähnlich engagiert ist wie man selbst. Dann kann man sich am Ende loben, das hat man ihnen beigebracht.
Das Gefühl, dass Kinder am Ende trotzdem einfach nur machen, was ihnen die Eltern sagen, bleibt aber trotzdem. So war es bei mir jedenfalls, bis ich irgendwann aufhörte, nur einfach auf meine Eltern zu hören und selbst zu entscheiden, mit was ich mich wie solidarisiere, weil ich ohnehin erst irgendwann mit sechzehn verstand, was Solidarität überhaupt bedeutet.
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