: Mit Knopf im Ohr
Bundespräsident Horst Köhler besucht Friedrichshain-Kreuzberg, und die Bewohner schwärmen ihm was vor
„Alle Kinder, deren Eltern nicht in Deutschland geboren sind, setzen sich mal hin“, fordert die Lehrerin. Und fast alle der etwa 50 anwesenden SchülerInnen tun dies. „Und jetzt stehen alle wieder auf, die im nahen Urbankrankenhaus geboren sind“, worauf gut über die Hälfte der sechs- bis zwölfjährigen KreuzbergerInnen wieder aufsteht. Mit dieser kleinen Demonstration führte Manuela Seidel, Leiterin der Jens-Nydahl-Grundschule in Kreuzberg, gestern Bundespräsident Horst Köhler (CDU) in die Problemlage ihrer Schule ein.
Fünf Stunden lang tourte der Bundespräsident gestern zusammen mit der Führungsriege des Bezirksamts Friedrichshain-Kreuzberg durch den Bezirk. Einen Überblick verschaffte er sich vom zwölften Stock des Lichtturms der Oberbaum-City. Und schon als Baustadtrat Franz Schulz (Grüne) ihm dort die hochtrabenden Entwicklungspläne links und rechts der Spree vorstellte, war Köhler der kritischste Nachfrager. Der „gute König“ wollte etwas von den Problemen wissen – doch meist meldeten die „Untertanen“: „alles in Ordnung“.
Und sie huldigten ihm: Die MitarbeiterInnen der BASF Services Europa traten in regenbogenfarbenen Halstüchern zum Spalier an, das Vorstandsmitglied der HVB Immobilien AG, Friedhelm Bullendieck, sprach von „personifiziertem Glanz“. Der Bundespräsident stellte die nahe liegende Frage, ob denn die neuen Wohnungen am Spreeufer für die türkischen Familien seien? Darauf waren die Bezirkspolitiker noch gar nicht gekommen. Sie begrüßten eher, dass junge EU-Bürger vermehrt in den Wrangelkiez ziehen.
Viel kritischer ging es auch beim nächsten Besichtigungspunkt, dem alternativen Kulturprojekt RAW-Tempel, nicht zu. Die verschiedenen Initiativen turnten, spielten und töpferten dem Bundespräsidenten etwas vor, was diesem gefiel. Denn „hier beschwert sich erst mal keiner, sondern führt etwas vor“. Auch als Köhler später nach Problemen und Haken fragte, kriegte keiner den Mund auf. Kein Wort zu Hartz IV oder Ähnlichem. Nur eine Aufwertung der ehrenamtlichen Arbeit wünschte man sich.
Daher waren auch die auffällig vielen auf dem Gelände verteilten Obdachlosen und PunkerInnen – mit Knopf im Ohr – unnötig, denn eine Gefahr drohte dem ehemaligen Chef des Internationalen Währungsfonds (IWF) hier nicht. Nur den abgedunkelten Saal des so genannten Ambulatoriums des RAW kommentierte einer seiner Zivilpolizisten zu seinem Kollegen mit, dies hier sei „das Grausamste, was ich bisher mitmachen musste“.
Dann fuhr man in weitem Bogen durch Friedrichshain nach Kreuzberg zum Obdachlosenheim der Siefos GmbH in der Waldemarstraße. Ohne Probleme setzte sich Köhler zum Mittagessen zwischen die Obdachlosen. Schließlich hatte er auch als Vertreter der neoliberalen Politik des IWF nie Probleme, in Afrika einen Slum zu besuchen und die BewohnerInnen für ihr Engagement zu loben. Und die beiden Geschäftsführerinnen freuten sich einfach, dass der Bundespräsident sich für ihre Arbeit interessiert. CHRISTOPH VILLINGER