Jahre ohne Aufbegehren

Kino der Kindheit (9): Im York-Kino am Rand von Buenos Aires durften die Filme erst gezeigt werden, nachdem die Zensurstelle elliptische Rätsel aus ihnen gemacht hatte

Die Militärdiktatur verdächtigte so gut wie jeden Film:Er könnte kommunistischeund andere Triebe wecken

Im Kino meiner Kindheit stand die Zeit still. Bevor ich alt genug war, um alleine ins Kino zu gehen, war die Zeit noch gerast: Die Apollo XII war auf dem Mond gelandet, die Beatles auseinander gegangen, alle Folgen von „Star Trek“ zigmal im Fernsehen gelaufen. Ende der Siebzigerjahre floss die Geschichte aber wieder zäh wie ein Lavastrom – zumindest in Argentinien. Bleierne Zeit: Militärdiktaturen kennen kein Verfallsdatum.

York hieß das Kino meiner Kindheit, und in seiner Umgebung schien die Zeit schlichtweg abgeschafft. Es lag an einem kleinen, halb verwilderten Platz in einem Vorort von Buenos Aires, einem Bahnhof gegenüber, der in den Fünfzigerjahren still gelegt worden war. Das Bahnwesen hatten in Argentinien die Engländer angelegt, der Bahnhof im nüchternen Design der Jahrhundertwende – ein Gutshaus aus Backstein mit gusseisernen Ornamenten – hätte auch in New Delhi oder Kapstadt stehen können. Das Kino York war um 1910 entstanden, als Festsaal der „Sociedad Cosmopolita de Olivos“, eines Bürgervereins, der die damals ländliche Ortschaft mit städtischen Vergnügungen aufwerten wollte. Das habe ich inzwischen erfahren. Damals sah ich nur ein für amerikanische Verhältnisse uraltes Gebäude.

Im Kino waltete ein Kartenverkäufer, der aus nie nachvollziehbaren Gründen – vielleicht sollte er einfach den Kartenumsatz steigern, vielleicht war er kurzsichtig, vielleicht ein Anarchist im Untergrund – jeden Zuschauer, der größer war als 1,60 m, für volljährig hielt. Die Militärdiktatur verstand Kino als Jugendgefährdung schlechthin, fast jeder Film stand unter Verdacht, kommunistische Triebe zu wecken und das christliche Abendland zu bedrohen. Außer Walt Disney, Propagandawerken der Militärregierung und unsäglichen Filmen mit Curd Jürgens war daher kaum ein Film jugendfrei.

Wir kauften unsere Karten mit zittriger Stimme und taten gelassen und fühlten uns frei und erwachsen, sobald wir den Kassenschalter hinter uns ließen. Hier durften wir nicht nur pubertäre Blockbuster wie „The Blue Lagoon“ mit Brooke Shields sehen, für die uns die Zensur zu jung hielt, sondern auch Bergman, Truffaut, Fassbinder. Buenos Aires war schon immer eine cinephile Stadt. Europäische Filme schafften es, halbwegs unversehrt durch die Zensur zu kommen, während Filme wie „Clockwork Orange“, „Norma Rae“ oder „Woodstock“ jahrelang verboten waren. Allerdings wurde alles, was nicht in die Vorstellungswelt der Zensurstelle passte, aus den Filmen rausgeschnitten: Von 1976 bis 1983 war keine einzige nackte Frauenbrust, kein Ehebett, keine Drogenszene, keinerlei Aufbegehren gegen die Macht im Kino zu sehen. Vor lauter Ellipsen wurden selbst Hollywood-Melodramen zu anspruchsvollen Rätseln.

Trotz der hermetischen Erzählung konnten wir in diesen Filmen eine andere Welt erahnen mit politischen und erotischen Leidenschaften. Verwirrt und aufgeregt kamen wir aus dem Kino raus, gingen zum Bahnhof rüber, liefen auf den verlassenen Gleisen zum Fluss und saßen dann an einem alten Steg, vor uns eine weite Bucht, auf der anderen Seite Buenos Aires mit seinen Hochhäusern. Wenn die Sonne unterging hinter der Skyline, hieß es nach Hause gehen, patriotische Aufsätze schreiben, Tugenden und Todsünden auswendig lernen. Selbst die Mengenlehre hatten die Militärs verboten. Als ich dann später die Großstadt für mich erschloss, entdeckte ich in Theatern, Parks und Cafés diese andere Welt, der ich im Kino schon einmal begegnet war.

Nach zwanzig Jahren Schließung zeigt das Kino York übrigens seit einem Monat wieder Filme. SILVIA FEHRMANN