: Das Leid mit den Tics
Das Tourette-Syndrom bietet häufig Anlass zu Witzeleien. Denn der Krankheit wohnt ein Hauch von Anarchie bei
In einer von alltäglicher Überforderung des Einzelnen gekennzeichneten Gesellschaft gibt es ein verstärktes Interesse an der Auseinandersetzung mit neuropsychiatrischen Erkrankungen. So mutierte das 1885 erstmals beschriebene Tourette-Syndrom, das durch das Auftreten von Tics charakterisiert ist, im Laufe der Neunzigerjahre zu einer Art Popstar unter den Krankheitsbildern, zu Gast in jeder Talkshow. Oliver Sacks schrieb darüber („Witty Ticy Ray“), Anne Heche spielte eine Betroffene in der Serie Ally McBeal, Jack Nicholson einen Betroffenen in „Besser geht’s nicht“.
Anlass zu Witzeleien auf Partys oder am Arbeitsplatz bietet verstärkt jener komplexe Tic, der als Koprolalie (Kopro: Kot; lalein: sprechen) bezeichnet wird, das plötzliche Herausschleudern obszöner und aggressiver Wörter. Die Koprolalie wird mittlerweile mit dem Tourette-Syndrom an sich assoziiert, obwohl es sich dabei um nur eines von vielen möglichen Symptomen handelt.
Allerdings auch um das spektakulärste: Es entbehrt eben nicht einer gewissen Komik, wenn der Professor während einer Vorlesung urplötzlich „Fotze“ sagt. Auch weil fast jeder schon Situationen erlebt hat, in denen er mit dem Gedanken gespielt hat, etwas völlig Unmögliches zu tun: etwa während einer katholischen Messe laut „Arschficken“ zu rufen.
Ein Hauch von Anarchie und Widerstand gegen bürgerliche Zwänge und Krämpfe haftet dieser Krankheit an und macht sie irgendwie sympathisch. taz-Autor Alberte Hefele konfrontierte daher in seinem satirischen Beitrag „Bitte ehrlich, bitte janz ehrlich“ (taz zwei vom 19. 9) Helmut Kohl mit einem an Koprolalie leidenden Cousin Angela Merkels, der ständig „Grdrecksackfickfick“ rief.
Die taz erreichten daraufhin Beschwerden von Tourette-Betroffenen, die sich sowohl auf die Reduzierung des Tourette-Syndroms auf die Symptomatik der Koprolalie bezogen als auch auf die Witzelei über eine Krankheit, die Leiden verursacht.
Die Koprolalie mag für wohlmeinende Erheiterung in subversiv gesinnten Kreisen sorgen, aber von den Betroffenen zu verlangen, dass sie mitlachen müssen, ginge natürlich zu weit – und war nie intendiert. MRE