„Die Grünen haben Nachholbedarf“

Ralf Fücks, Chef der grünen Böll-Stiftung, über die Zeit nach Joschka Fischer: „Gesucht wird nicht der neue Leitwolf“

taz: Joschka Fischer hat auf seinen Anspruch verzichtet, die grüne Opposition im Bundestag zu führen. Sagt er damit, dass er Minister bleiben will oder dass es bald keine grünen Minister mehr geben wird?

Ralf Fücks: Er geht davon aus, dass die Grünen demnächst Opposition sein werden. Und er gibt ein Signal an den Bundeskanzler. Das Tandem Fischer-Schröder existiert nicht mehr.

Fischer hängt an der Macht. Warum lässt er sie nun fahren?

Den persönlichen Grund hat er genannt: Er tauscht Macht gegen Freiheit. Politisch war er stark mit Rot-Grün verbunden. Dieses Projekt geht jetzt zu Ende.

Zeitweise oder für immer?

Eine historische Allianz, ein Generationenprojekt dieser Art wird es nicht mehr geben. Künftige Koalitionen mit der SPD, die auf größerer Distanz beruhen, sind aber möglich. Rot-Grün war für uns wichtig, um regierungsfähig zu werden und die ökologische Modernisierung anzuschieben. Programmatisch hat es den Grünen nicht unbedingt gut getan.

Wieso haben die Grünen unter Rot-Grün gelitten?

Wir stehen für einen anderen Entwurf sozialer Gerechtigkeit als die SPD. Grün ist die Verbindung von Selbstbestimmung, Selbstverantwortung und Solidarität. Soziale Teilhabe entscheidet sich beim Zugang zu öffentlichen Gütern wie Bildung und Kultur. Sozialdemokraten sind stärker auf soziale Transferzahlungen fixiert. Da sind die Unterschiede verschwommen.

Fischer stand für das rot-grüne Projekt, das den Grünen nicht immer gut getan hat – war auch Fischer problematisch für die Grünen?

Die stärkste Prägung, die von Fischer ausging, war der Wille zur Gestaltung, also auch der Wille zur Macht. Er stand gegen die Flucht aus der Realität. So hat er auch die internationale Verantwortung der Bundesrepublik neu interpretiert – nicht nur auf dem berühmten Kosovo-Parteitag.

Die Grünen genießen nun eine doppelte Freiheit – von der Regierungsmacht und vom Patriarchen. Wozu kann dieser neue Spielraum dienen?

Die Partei muss ihre programmatischen Batterien neu laden. Es gibt Nachholbedarf. Wir haben zum Beispiel kein konsistentes Steuerkonzept. Vor allem aber müssen wir neue Modelle sozialer Teilhabe voranbringen, etwa die Beteiligung breiter Teile der Bevölkerung am Vermögen der Unternehmen.

Was stellen Sie sich vor – Volksaktien, Betriebsrenten?

Es geht um eine neue Kombination von sozialer Grundsicherung und Eigenvorsorge. Wenn sich die Gewerkschaften vor 20 Jahren entschlossen hätten, einen Teil der Lohnerhöhungen in Investitionsfonds umzulenken, dann wären die Beschäftigten heute die größten Aktionäre der Republik. Es hätte ein enormer Vermögensaufbau stattgefunden, der sowohl Risiken abpuffern kann als auch Mitbestimmung ermöglicht.

SPD und Grüne waren sich meist einig, die Steuern zu senken. War das richtig?

Natürlich dürfen Steuern in Deutschland im Vergleich zu anderen europäischen Staaten nicht zu hoch sein. Aber die öffentliche Infrastruktur ist auch nicht kostenlos zu haben. Der Ruf nach sinkender Staatsquote führt in die Irre. Was wir brauchen, ist eine neue Balance zwischen öffentlichen Investitionen und sozialen Transfers. Wir geben zu viel für Einkommenssicherung und zu wenig für die Zukunft aus.

Müssen sich die Grünen verändern, weil sich auch ihre soziale Basis gewandelt hat?

Auf dem linken Flügel hat es eine Erosion gegeben. Hinzu gekommen sind dagegen Selbstständige und Informationsarbeiter. Die Grünen repräsentieren heute das innovative Milieu der Gesellschaft.

Auch das gut verdienende Milieu?

Eher das gut qualifizierte.

Welche Führungspersonen nach Fischer würden diesen Wandel verkörpern?

Sie glauben jetzt nicht, dass ich Namen nenne. Hinter und neben Fischer hat sich eine Führungsgruppe aus einem Dutzend Leute herausgebildet, die alle politisch erfahren, fachlich qualifiziert und rhetorisch beschlagen sind – auch wenn sie nicht die sprachliche Wucht eines Joschka Fischer entfalten. Wir brauchen einen Wechsel der Führungskultur. Gesucht wird nicht der neue Leitwolf, sondern ein Führungsteam.

INTERVIEW: HANNES KOCH