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Archiv-Artikel

Feindliche Übernahme eines Wohnviertels

Im Wahllokal 319 in der Venusstraße in Köpenick wählten 9,8 Prozent NPD. Anfang der 90er war die Ecke bei jungen binationalen Familien beliebt. Sie zogen weg, dann beherrschten Neonazis das Straßenbild. Ein Erfahrungsbericht

Als ich 1991 nach Altglienicke zog, in das letzte Plattenbaugebiet, das in Berlin gerade für rund 10.000 Bewohner entstand, war ich schwanger und glücklich: Glücklich, weil es so schnell geklappt hatte mit der größeren Wohnung, die ich dringend brauchte.

Viele meiner neuen Nachbarinnen kannte ich schon von der Schwangerengymnastik. Wir trafen uns später beim Kinderwagenschieben, dann begegneten wir uns in der Kita und auf dem Spielplatz. Viele meiner neuen Nachbarinnen lebten wie ich in einer binationalen Familie, die sich erst nach dem Ende der DDR wirklich gründen konnte. Meine halbvietnamesische Tochter baute auf dem Spielplatz gemeinsam mit farbigen Kindern Sandburgen und fuhr Dreirad. Ich fühlte mich wohl im Wohngebiet rund um die Venusstraße, auch wenn die Wege in die Stadt weit waren von diesem äußersten südöstlichen Stadtrand aus. Dafür war die Kita nah und gut. Und in der Umgebung am südöstlichen Stadtrand lockten Rudower Höhe und Feuchtbiotope für Spaziergänge.

Die erste bekannte Nachbarin, die diese Ecke Berlins verließ, zog 1994 nach Wien, weil sie dort Arbeit gefunden hatte. Dann zogen andere nach Hamburg und nach Stuttgart. Auf den Bänken rund um die Spielplätze wurde plötzlich über Baupläne gesprochen. Wer in Berlin blieb, baute ein eigenes Haus. Wohnungen wurden leer. War Wahlkampf, gab es plötzlich niemand mehr, der die Plakate der „Republikaner“ abriss oder überklebte.

Als die Wohnung unter mir mitten im Winter wieder bezogen wurde, freute ich mich, dachte ich doch an meine Heizkosten. Aber die neuen Nachbarn waren ewig von einer Schnapsfahne umgeben. Und wenn die deutsche Fußballnationalmannschaft spielte, war meine Wohnung nicht mehr bewohnbar: Meine neuen Nachbarn feierten erst in ihrer Wohnung, dann bezogen sie von ihrem Fenster aus Leute von umliegenden Häuserblocks mit ein. Die Polizei wegen ruhestörenden Lärms zu rufen, machte keinen Sinn. Die grölenden Fußballfans waren in der Mehrheit.

Gegen den Wohnungsleerstand warb die Wohnungsbaugesellschaft, bei ihr seien Mieter mit Hunden willkommen. Die wurden andernorts gekündigt. Nach kurzer Zeit waren in meinem Siebengeschosser fünf Hunde, die ich entweder als Kampfhunde oder als mächtig groß eingruppierte. Gehwege verdreckten mit Hundekot; selbst einige Spielplätze wurden zu Hundetollplätzen und waren nicht mehr bespielbar. Widerstände dagegen gab es nicht mehr im Wohngebiet rund um die Venusstraße. Ich dachte an Umzug. Nur die Kita hielt mich noch.

Etwa ab 1998 wurden viele der leeren Wohnungen wieder bezogen. Jedes Wochenende trugen jetzt junge Männer mit kurz geschorenen Haaren, Springerstiefeln und Bomberjacken die Tische und Kühlschränke für ihre Kumpane in die Häuser. Bei den Wahlen fiel den Parteien und Behörden die neue Klientel nicht weiter auf, denn die Wählerstimmen verteilten sich auf Parteien NPD, „Republikaner“ und DVU und blieben bei jeder Partei unter 5 Prozent.

Aber die Sparkasse bemerkte die neuen Bewohner: Weil die das Areal rund um den Geldautomaten zu ihrem Treffpunkt und Hundetrainingsplatz erkoren hatten, hoben immer weniger Leute Geld ab. Die Sparkasse engagierte einen Wachschutz. Die Rechten zogen ein paar Meter weiter.

Als meine Tochter zur Schule kam, begab ich mich auf Wohnungssuche. Sie war gleich in der ersten Schulwoche als „Fidschi“ beschimpft worden. Den Umzug habe ich nie bereut. Auch wenn das Bezirksamt Treptow-Köpenick das rechtsextreme Problem inzwischen nicht mehr unter den Tisch kehrt. 2003 berichtete ich über den Prozess gegen die rechtsextreme Musikband „Landser“. Im Gerichtssaal stockte mir der Atem: Einer der Angeklagten hatte jahrelang bei mir um die Ecke gewohnt. Zur Bundestagswahl am vergangenen Sonntag bekam die NPD im Wahllokal 319, untergebracht im Clubraum eines Seniorenheims, in der Venusstraße 9,8 Prozent. Das ist das zweithöchste Ergebnis in Berlin. Marina Mai