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Archiv-Artikel

Ein obsessives Projekt

Was bleibt, wenn Literatur unter der Prämisse des Verdachts gelesen wird: Mit dem Erscheinen der Dissertation des Germanisten Matthias Lorenz ist die Antisemitismusdebatte um Martin Walser wieder aufgeflammt

Lorenz entdeckt bei Walser ein „nationalistisches Projekt“. Warum hat das früher niemand bemerkt? Nicht Unseld, Johnson, Grass?

VON JÖRG MAGENAU

Antisemitismus ist ein bedrohliches Wort, das eher zum Pauschalurteil als zur Differenzierung verführt. Schlimmeres lässt sich einem Menschen hierzulande nicht nachsagen. Wer erst einmal im Ruf steht, ein Antisemit zu sein, ist dauerhaft erledigt. Wer dagegen einen Antisemiten entlarvt, erwirbt sich Verdienste ums vergangenheitsbewältigende Gemeinwesen und zuverlässige Beachtung in einer Öffentlichkeit, die als „Ökonomie der Aufmerksamkeit“ funktioniert. Deshalb gibt es – neben berechtigten Alarmsignalen bei rechtsradikalen, judenfeindlichen Äußerungen – einen alarmistischen Anti-Antisemitismus, der, was er zu bekämpfen vorgibt, erst konstruiert, um seine eigene Dringlichkeit zu untermauern.

Das gilt besonders für die eher sportive germanistische Disziplin, in der es darum geht, „literarischen Antisemitismus“ aufzuspüren. Literaturwissenschaftler verwandeln sich dabei in pedantische Sprach-Inspektoren. Alles kann ihnen zum Indiz werden: die Anwesenheit von Juden, die Abwesenheit von Juden, Schönheit und Hässlichkeit, Menschen, die mit Geld zu tun haben, auch wenn sie nicht jüdisch sind, und schließlich alle Figuren, deren Nasen beschrieben werden oder die an andere Klischees erinnern, die zuvor von ihnen als „antisemitisch“ definiert worden sind.

So verfährt der junge Lüneburger Doktorand Matthias N. Lorenz in seiner gerade vorgelegten Dissertation über Martin Walser. Da kann man beobachten, was von Literatur übrig bleibt, wenn sie unter der Prämisse des Verdachts gelesen wird: nichts. Trotzdem lässt sich damit zuverlässig eine kleine Erregungswelle in den Feuilletons produzieren, auch wenn das Publikum des Themas längst überdrüssig geworden ist. Walser ist seit der Paulskirchenrede (1998) und mehr noch seit dem Roman „Tod eines Kritikers“ (2002) ein bevorzugter Gegenstand der Anti-Antisemitismusfraktion. Seine Auseinandersetzung mit der medialen Gedenkkultur, die im Vorwurf der „Instrumentalisierung von Auschwitz zu gegenwärtigen Zwecken“ gipfelte, wurde ebenso unter Antisemitismusverdacht gestellt wie die fiktionale Darstellung des Machtverhältnisses eines Kritikers gegenüber dem Autor, wie er selbst es mit Marcel Reich-Ranicki schmerzhaft erfuhr.

Lorenz hat nun in jahrelanger Fleißarbeit das Gesamtwerk Walsers mit inquisitorischer Akribie durchpflügt. Sein Resümee: Walsers Werke – Romane, Theaterstücke und Essays gleichermaßen – seien von Anfang an von antisemitischen Klischees durchdrungen. Es wimmle nur so von herabwürdigend und negativ gezeichneten jüdischen Figuren. Vor allem aber mache Walser sich einer Täter-Opfer-Umkehr schuldig, indem er den Opferstatus der Juden negiere, nichtjüdische Deutsche aber als unschuldige Opfer des Nationalsozialismus darstelle. Er entdeckt bei Walser eine völkische Sprache und ein „nationalistisches Projekt“, sodass man sich nach der Lektüre dieser Anklageschrift nur wundern kann: Warum hat das früher niemand bemerkt? Nicht Walsers sensible Freunde Uwe Johnson, Max Frisch, Günter Grass, nicht sein vorsichtiger Verleger Siegfried Unseld und auch keiner der Germanisten, die sich vor 1998 mit diesem Werk befassten? Wie war es möglich, dass niemand diese scheinbar so offensichtlichen antisemitischen Spuren entdeckte? Kann es sein, dass Lorenz’ Befund weniger dem Werk Walsers als der Brille geschuldet ist, mit der er es betrachtet? Dass damit heutige Sichtweisen auf etwas Früheres projiziert werden? Ganz zweifellos ist bereits die monothematische Betrachtungsweise dazu geeignet, ein literarisches Werk zu verändern.

Sicher ist: Walser hat in der unmittelbaren Nachkriegszeit von Auschwitz möglichst nichts wissen wollen, hat sich aber dann, spätestens seit den frühen Sechzigerjahren, kontinuierlich mit der deutschen Schuld und dem sich wandelnden gesellschaftlichen Umgang mit dieser Schuld auseinander gesetzt – mehr als alle anderen seiner Zunft. Selten war er einverstanden mit dem, was einst „Vergangenheitsbewältigung“ genannt wurde – als ob der industrielle Massenmord etwas sei, was sich erst durchführen und anschließend „bewältigen“ ließe. In seinem Theaterstück „Der schwarze Schwan“ von 1964 beschrieb er, wie die Schuld gewissermaßen ökonomisch nutzbar gemacht wurde, wie Vergangenheitsbewältigung ins Wirtschaftswunder und Wiedergutmachung in den Wiederaufbau einmündete.

„Seit Auschwitz ist noch kein Tag vergangen“, sagte er 1979, und auch seine Bekundung, dass es ihm immer unmöglich gewesen sei, sich auf die Seite der Opfer zu mogeln, sollte ernst genommen werden. Walser leidet darunter, als Deutscher unausweichlich zu den Tätern zu gehören. Dieses Leid ist legitim. Es treibt ihn um und an. Sein Schmerz kulminierte immer wieder in der vergeblichen Sehnsucht, das Deutsche und das Jüdische zu versöhnen und die Kluft zwischen Tätern und Opfern zu überwinden. Deshalb galten seine essayistischen Liebeserklärungen Figuren wie Victor Klemperer, Rudolf Borchardt oder Heinrich Heine, die Deutsches und Jüdisches gleichermaßen repräsentieren – allerdings für die Zeit vor 1933. Deshalb scheiterte letztlich die Lebensfreundschaft mit Ruth Klüger, bei der er lange nicht zur Kenntnis nehmen wollte, dass sie Auschwitz überlebt hatte. Auch die Unversöhnlichkeit gegenüber Ignatz Bubis wird erst vor dem Hintergrund der Verzweiflung darüber begreiflich, dass die Spaltung der deutschen Gesellschaft in Juden und Nicht-Juden, in Täter und Opfer, unüberwindlich ist.

Lorenz betont zwar, es gehe ihm nicht darum, „den Menschen Martin Walser zu beschädigen oder herabzusetzen“. Doch er zielt direkt auf die Person, wenn er literarische Figuren und Autor umstandslos gleichsetzt. Er negiert, dass es sich in Walsers Romanen jeweils um ein Figurengeflecht handelt und dass einzelne Positionen nicht unbedingt die des Autors sind – ein Fehler, den man im ersten Semester zu vermeiden lernt. Zudem liest er nicht nur Walsers Schlüsselromane als schlichte Abbildung der Realität, wenn für ihn etwa der mutmaßlich jüdische Kritiker in „Tod eines Kritikers“ ganz und gar identisch ist mit Marcel Reich-Ranicki. Auch in anderen Romanen entdeckt er Reich-Ranicki leibhaftig – etwa in der Figur des Immobilienmaklers Jarl F. Kaltammer aus dem „Schwanenhaus“, dessen Initialen „JFK“ er als „MRR“ entziffert. Dieser Befund lässt allerdings weniger auf eine Obsession Walsers als auf eine des Doktoranden schließen.

Lorenz stellt diverse Kataloge antisemitischer Stereotype vor, die in den Neunzigerjahren erarbeitet wurden, und hält sich – entgegen seiner zur Schau getragenen Skepsis – sehr wohl daran, Literatur damit zu messen. Er zitiert eine germanistische Arbeit, in der Autoren von Kriminalromanen oder Parodien davon abgeraten wird, jüdische Figuren zu benutzen, weil das zu Missverständnissen führen könnte. Das kommt einem so vor wie die Ratschläge der Kriminalpolizei, gefährliche Plätze zu meiden. Doch gerade damit möchte ein Autor wie Walser sich nicht abfinden.

Er hat es geschafft, in jeder Phase der bundesrepublikanischen Entwicklung als „bad guy“ dazustehen. Immer wieder polemisierte er gegen die herrschende Zeit-Stimmung. In der Adenauer-Epoche galt er auf erotischem Gebiet als moralisch verwerflich. In den Siebzigerjahren, als der Staat sich mit einem Radikalenerlass wappnete, hielt man ihn für einen Kommunisten. In den Achtzigern wurde er als Nationalist angesehen, weil er bezweifelte, dass die deutsche Teilung das Endprodukt der Geschichte sein könne. Gezielt provozierte er damals einen linken Anti-Nationalismus, der überall, wo von „Volk“ oder „Heimat“ die Rede war, gleich Völkisches oder Nationalsozialistisches dräuen sah. Ganz ähnlich verhält es sich heute mit dem Anti-Antisemitismus, einem direkten Nachfahren des Antikommunismus und des Anti-Nationalismus. Dieser rigide Anti-Antisemitismus ist eine Errungenschaft der Neunziger. Er belegt einerseits die gewachsene Sensibilität einer Gesellschaft, die ihre schuldhafte Vergangenheit nicht verdrängen will, sondern geradezu demonstrativ bearbeitet. Das Holocaust- Mahnmal in Berlin ist das Stein gewordene Monument dieser Haltung. Er hat aber auch dazu geführt, dass der Begriff des Antisemitismus durch übereifrigen Gebrauch seine Trennschärfe verloren hat. Die Debatte um Martin Walsers Auseinandersetzung mit deutscher Schuld und dem deutsch-jüdischen Verhältnis wäre leichter zu führen, wenn man den Oberbegriff „Antisemitismus“ dabei ersatzlos streichen würde.