: SMS von der Hinterbank
Am Beispiel der Grünen lässt sich schön beobachten, wo derzeit das wahre Geschacher stattfindet: nicht in den offiziellen Koalitionsverhandlungen, sondern im Zwielicht informeller Parteiklüngel
VON ULRIKE WINKELMANN
Es gibt Koalitionsverhandlungen. Die sind für vorne, für die Abendnachrichten. Und es gibt über 600 frisch gewählte Bundestagsabgeordnete. Viele von ihnen wollen groß herauskommen – ob in einer Regierungs- oder einer Oppositionspartei. Deshalb findet das wahre Getümmel hinten statt, in den künstlich beleuchteten Versammlungsräumen des Reichstags und den 1.001 Gaststätten im Berliner Regierungsviertel.
Es ist ja nicht die Sitzung der Grünen am Dienstag, auf der entschieden wird, wer statt Joschka Fischer die neue Fraktion führen soll. Bis dahin haben die Kandidatinnen und Kandidaten schon morgens im Café Einstein gesessen und sich belauert: Wer zieht sich als Erster zurück, weil er sowieso keine Chance hat? Nur scheinbar neutral weist man sich gegenseitig auf die Grünen-Stellen in der Zeitung hin. Schau mal, da wird dir einer reingebrezelt. Was ein Zufall.
Bis Dienstag ist so viel passiert. Da haben die jetzigen Fraktionschefinnen sich schon der Solidarität aller versichert, die von ihnen in den vergangenen Jahren profitiert haben: Du weißt, wem du dein Sprecheramt zu verdanken hast, nicht wahr? Bis dahin haben die jetzigen Minister sich schon die Stimmen aller garantieren lassen, denen sie zu Posten verholfen haben – und verhelfen werden.
Die Kandidaten werden zu Hintergrundgesprächen für die Presse geladen haben, um zu beweisen, dass ihr jetziger Job sie auch für künftige Führungsaufgaben qualifiziert. An der Zahl der Gäste können sie ablesen, welche Chancen ihnen die Medien zurechnen. Wie gut, dass ein Minister seinen Anspruch auf Macht mit Pressesprecher und Buffet unterfüttern kann. Kauende Journalisten fragen außerdem weniger kritisch.
In allen Fraktionen versuchen die alten und neuen Mitglieder des Bundestags herauszufinden, ob sich die alten Kader gleich zu Beginn der Legislaturperiode wegputschen lassen. Jeden Abend treffen sich die Fraktionsflügel. Zu klären ist, wer überhaupt noch zu wem hält. Handys erweisen sich als Segen. Jetzt können Diskussionsstrategien ad hoc per SMS abgestimmt werden: „Hau rein!“ Im kleinen Kreis wurde ein Angriff auf den längst angezählten Sprecher verabredet – aber wer traut sich jetzt aus der Deckung?
Politische Inhalte werden nur zu Umsturzzwecken im Munde geführt. Ein erster Schlag gegen den alten Sprecher könnte so aussehen: Warum hat er in der entscheidenden Auseinandersetzung mit dem Chef nicht „Blumenbeete“, „Privatrente“ oder „Kinderwahlrecht“ verlangt?
Doch Vorsicht: Wer sich selbst jetzt schon mit einem Thema aus dem Fenster hängt, könnte in Teufels Küche geraten. Entweder wird er den Losern zugerechnet, die mit ihrer „Blumenbeete“-Arbeitsgruppe schon seit Jahren kaltgestellt sind. Oder der mächtige „Kinderwahlrecht“-Sprecher sorgt dafür, dass auch dem Herausforderer klar wird, wessen Zaun er gerade überstiegen hat: „Seit wann, mein Herr, sind Sie denn Experte?“ Gelächter. Warum haben ihn seine Leute nicht gewarnt? Nun, er sollte einmal richtig auflaufen. Sonst wird er auch ihnen zu laut.
Die Frauen von der Linkspartei haben mittlerweile bemerkt, dass die Männer den Wahlkampf ohne sie geführt und sich dadurch die besten Posten in der neuen Fraktion gesichert haben. Hektisch wurde für gestern Abend ein Fraktionsfrauentreffen angekündigt. Glauben sie ernsthaft, dass eine von ihnen etwas zu sagen haben wird, selbst wenn sie auf der weiblichen Besetzung eines Amtes beharren?
Sie sind neu. Sonst wüssten sie, dass Frauen, die etwas werden wollen, sich entweder rechtzeitig zusammenschließen – oder gleich mit den Jungs kungeln: Lass du mich auf dem Frauenticket auf den Posten. Ich sorge dafür, dass dir die anderen Weiber nicht in den Rücken fallen.
Wenn die Abgeordneten des 16. Deutschen Bundestags bis zum 18. Oktober das erste Mal zusammenkommen, tragen viele von ihnen schon tiefe Wunden. Und jeder wird sich dafür noch einmal zu rächen wissen.