: Pufferzonen und Todesstreifen
FOTOKUNST „Über Grenzen“ heißt die aktuelle Ausstellung der Berliner Fotoagentur Ostkreuz, einer bunt gemischten Gruppe europäischer Erkunder. Es geht um politische, gesellschaftliche und persönliche Grenzen
VON ANJA MAIER
Drei Jahre ist es her, dass die Ostkreuz-Fotografen im Haus der Kulturen der Welt ihre erste große Ausstellung hatten. „Ostzeit. Geschichten aus einem untergegangenen Land“ lautete der Titel. Es ging um die DDR, um Ikonografien, die überdauert hatten. Je nach persönlicher Sichtweise blickte man durch die Bilder zurück auf ein erbärmliches oder träumerisches Land.
Im HKW sind normalerweise keine inländischen Künstler zu Gast. Sondern solche, die Geschichten von jenseits der Landesgrenzen mitbringen. Ostkreuz – das war vor drei Jahren eine Ausnahme. Nun wird diese Ausnahme zum zweiten Mal gemacht. Ostkreuz hat wieder eine große Ausstellung. Der Titel: „Über Grenzen“.
Worum geht es? HKW-Chef Bernd Scherer sagt, die neue Ausstellung „reflektiert das Thema Grenzen ab 1989“, hier blickten „Fotografen mit Osterfahrung auf die Welt“. Diesem Satz liegt der Irrtum zugrunde, Ostkreuz sei eine Ostberliner Fotoagentur, deren Mitgliedern der „ostdeutsche Blick“ als künstlerische Arbeitsgrundlage tauge und reiche. Richtig ist jedoch, dass die 18 Mitglieder der „Agentur der Fotografen“ das Nur-Ostlersein in jeder Hinsicht hinter sich gelassen haben. Künstlerisch, persönlich, wirtschaftlich, biografisch sind sie eine bunt gemischte Gruppe europäischer Erkunder.
Für „Über Grenzen“ sind sie zwei Jahre durch die Welt gereist. Es geht natürlich um politische Grenzen. Espen Eichhöfer war dabei, als 2011 der Südsudan gegründet wurde, sich vom Norden abgegrenzt hat. Jörg Brüggemann hat die absurde Disney-Situation an der Grenze zwischen Nord- und Südkorea abgebildet: Tourismus im Todesstreifen. Julian Röder zeigt, wie Frontex, eine Spezialeinheit der Europäischen Union, die EU abschottet – also uns. Und Heinrich Völkel hat die menschenleere Pufferzone zwischen Nord- und Südzypern fotografiert: Staub und Steine auf einer geteilten Mittelmeerinsel.
Dies sind die sichtbaren Grenzen. Das Brandenburger Fotografenpaar Ute und Werner Mahler ist aufgebrochen und hat nach den Überresten der innerdeutschen Grenze gesucht. „Vom Schrecken ist nicht mehr viel zu sehen“, sagen sie. Eine Treppe, die ins Leere führt, ein kräftiger Baum im Gleisbett, ein Grenzwachturm, der wie eine dunkle Vision am Horizont auftaucht – die beiden mussten geduldig suchen, um ihre Motive zu finden. Nun hängen sie großformatig in Schwarzweiß an der Wand: Ästhetik des Versinkens.
Gesellschaftlichen Grenzen geht Annette Hauschild mit ihrer großartigen Arbeit über Sinti und Roma auf den Grund. Sie ist nach Italien und Ungarn gereist, in das Kosovo und die Slowakei, wo das „fahrende Volk“ längst sesshaft ist. Kaum eine Minderheit in Europa ist so vielen Vorurteilen, derart rassistischer Verfolgung ausgesetzt. Hauschild zeigt die miesen Lebensbedingungen dieser Leute, den Schmutz, aber auch ihre Würde, ohne in Kitsch abzudriften.
Pepa Hristovas „Labyrinth aus Glas“ zeigt eine Welt, von der man meint, sie sei unmöglich in einem EU-Land. In Bulgarien leben tausende Babys in Heimen; sie sind krank oder ihre Eltern können sich nicht um sie kümmern. In diesen sogenannten Heimen für medizinisch-soziale Betreuung vegetieren die Kinder in Gitterbetten, sie werden gefüttert und gewickelt, mehr nicht. Holen ihre Eltern sie nach drei Jahren nicht ab oder findet sich niemand, der sie adoptiert, kommen sie in Waisenheime. Hristovas Fotos zeigen eine Hölle in warmen Farben; nie sieht man die Augen der Kinder. Es sind Bilder, die dem Betrachter lange nachgehen.
Und dann gibt es da noch die Arbeit von Linn Schröder. Großformat. Farbe. Ein Bild, das einen eigenen Raum bekommen hat, während die Serien aller anderen Ostkreuz-Fotografen korrespondierend gegenüber gehängt wurden. „Selbstporträt mit Zwillingen und einer Brust“ heißt Schröders Foto. Man sieht den Körper der Fotografin nach der Geburt ihrer Zwillinge. Die sich windenden, bis auf die Windel nackten Kinder liegen in ihren Armen, Schröders linke Brust zeichnet sich schwer von Milch unter einem Trikot ab. Wo die rechte wäre, ist eine Amputationsnarbe. Eine Männerhand steckt dem Baby auf dieser Seite einen Beruhigungsfinger in den Mund.
Linn Schröder hat nach ihrer Brustkrebserkrankung Zwillinge geboren. Für sie zeigt dieses Foto die persönlichste Grenze, „die zwischen Leben und Tod“. In ihrem Selbstporträt ist alles drin: die geballte weibliche Kraft, die monströse Angst vor dem Tod, der Sieg über ihn durch das Leben. Vorerst. Ein großartiges, ein schreckliches Bild. Die paradoxe Wirklichkeit im Großformat.
■ „Über Grenzen“. Eine Ausstellung von Ostkreuz – Agentur der Fotografen. Haus der Kulturen der Welt bis 30. 12.