: Große Spekulation
VON HANNES KOCH
Die große Koalition aus Union und SPD ist gestern ein bisschen wahrscheinlicher geworden. Nach dem ersten Sondierungsgespräch zwischen den beiden Parteien über eine neue Regierung erschienen zuerst CDU-Chefin Angela Merkel und Edmund Stoiber (CSU) vor hunderten Journalisten und Touristen, die sich vor dem Berliner Reichstag versammelt hatten. Merkel wirkte munter und locker, während Bundeskanzler Gerhard Schröder, der zusammen mit SPD-Chef Franz Müntefering kam, einen ziemlich steifen Eindruck machte.
Auch auf Nachfrage erhob Schröder persönlich nicht mehr den Anspruch, Bundeskanzler zu bleiben. Diesen Part überließ er Franz Müntefering, der abermals erklärte, dass die neue Regierung „von Schröder geleitet“ werden solle. Seit sich der alte Bundeskanzler unter dem Eindruck des Wahlergebnisses vom Sonntag auch zum neuen Regierungschef ausgerufen hatte, gilt dies als Hindernis für eine große Koalition.
Wahrscheinlich am kommenden Mittwoch will sich die Vierer-Gruppe erneut treffen, sagten sowohl Merkel als auch Müntefering. Dann soll nicht es mehr nur um Floskeln gehen, sondern ein erster Versuch unternommen werden, inhaltliche Schnittmengen zu definieren. Beide Seiten legen aber Wert darauf, dass auch in einer Woche nur ein „Sondierungsgespräch“ stattfinde. Die eigentlichen Verhandlungen könnten erst danach beginnen.
Nach Schröders Definition des Wahlergebnisses haben die Wähler die linken und rechten Extreme des politischen Spektrums abgelehnt und für die Mitte votiert. Diese werde aktuell durch zwei Begriffe beschrieben: Schröders Agenda 2010 und den „Jobgipfel“. Zum ersten Mal nach der Wahl rekurrierte Schröder damit auf diese Vereinbarung der praktizierten großen Koalition. Merkel und Schröder hatten am 17. März diesen Jahres gemeinsam beschlossen, die Körperschaftsteuer für Kapitalgesellschaften von heute 25 auf 19 Prozent zu senken. Mit dieser und anderen Maßnahmen sollte parteiübergreifend ein Zündfunke gegeben werden, um neue Jobs zu schaffen.
Angela Merkel erklärte mit mildem Lächeln, dass „die SPD das Wahlergebnis akzeptieren“ müsse. Soll heißen: Die Sozialdemokratische Partei hat 450.000 Stimmen weniger bekommen als CDU und CSU zusammen und kann somit gar nicht den Bundeskanzler der nächsten Regierung stellen. „Die Union hat den Auftrag zur Regierungsbildung erhalten“, so Angela Merkel, und „diese Einsicht muss bei der SPD noch reifen“. Vielleicht war es nur Taktik, bei diesem Satz ein so zuversichtliches Gesicht zu machen – vielleicht aber auch nicht.
Immerhin zwei nicht ganz unwichtige SPD-Politiker unterstützten gestern den von Merkel angesprochenen Reifeprozess. Bremens Bürgermeister Henning Scherf, der selbst einer großen Koalition vorsteht, sagte über Schröder: „Ich habe den Eindruck, der kommt einfach nicht schnell genug runter von diesem großen Wahlkampf.“ Mit anderen Worten: Eine SPD-CDU-Regierung ohne Schröder könnte möglich werden. Barbara Hendricks, SPD-Staatssekretärin in Bundesfinanzministerium, stellte derweil eine gewisse Übereinstimmung in Sachen Unternehmensteuer mit Kollegen Friedrich Merz von der Union fest.
Die erste Sondierungsrunde des Tages hatte das Tandem Merkel-Stoiber mit Guido Westerwelle und Wolfgang Gerhardt (beide FDP) absolviert. Die Wunschpartner, die über keine Mehrheit im Bundestag verfügen, bestätigten sich gegenseitig eine „große Schnittmenge“ der Programme. Von Seiten der Union überwogen die skeptischen Töne hinsichtlich einer schwarz-gelb-grünen Regierungskoalition. Auch Guido Westerwelle äußerte sich pessimistisch. Einzig Wolfgang Gerhardt sah die Grünen „in der Verantwortung“, eine neue Regierung zu bilden – wenn notwendig, auch mit Union und FDP.
Das Wort zum gestrigen Tage freilich prägte FDP-Chef Guido Westerwelle: „Wir tasten im Nebel, jeden Tag ein Stück weiter.“