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Archiv-Artikel

Die Kunst als Grundnahrungsmittel

Vom bewussten Abschied von der Schönmalerei über Agitprop und provokante Deutschtümelei bis zu den neuen, seltsam blutleer wirkenden Gemälden über Leben und Tod: „Immendorff. Male Lago – Unsichtbarer Beitrag“, die große Jörg-Immendorff-Ausstellung in der Neuen Nationalgalerie in Berlin

Immendorff versuchte sich auch an der ästhetischen Symbiose von Comic und sozialistischem Realismus

VON MARCUS WOELLER

„Die Kunst muss die Funktion der Kartoffel übernehmen.“ So steht es auf dem Banner am Eingang zur roten Stadt, die in der großen Halle der Neuen Nationalgalerie aufgebaut ist. Der ironisch klingende, aber ganz und gar ernst gemeinte Spruch kann als Schlüssel zum Werk von Jörg Immendorff verstanden werden. Wie die Kartoffel als einst exotische Kolonialware in die Äcker Preußens kam, dort gut gedieh und innerhalb kürzester Zeit zum unverzichtbaren Energielieferanten der Bevölkerung avancierte, soll die Kunst als wesentliches gesellschaftliches Grundnahrungsmittel anerkannt werden. Als begehbares Modell dieses durch und durch moralischen Kunstsystems steht die Ausstellung „Immendorff. Male Lago –Unsichtbarer Beitrag“.

Mehr als sichtbar leuchtet die Ausstellungsarchitektur, die sich Immendorff für die Überblicksschau auf sein Werk ausgedacht hat. Sechs signalrote Pavillons und eine riesige Stellwand gruppieren sich in locker dörflicher Anordnung um einen zentralen Jungbrunnen. Spruchbänder verkünden Parolen eines Künstlerlebens und lassen den „Angstschweiß eines am Diesseits orientierten Bürgers“ riechen. Rote Wege flechten sich durch die Installation wie Adern um ein Herz. Für das nervige Kammerflimmern sorgen Videoprojektionen, welche die Besucher einem Dauerbeschuss Immendorff’scher Ikonografie aussetzen: Bienen, Affen, Adler und anderes Symbolgetier. Die rote Stadt selbst zitiert den Clint-Eastwood-Western „Ein Fremder ohne Namen“, in dem ein wortkarger Revolverheld in das Städtchen Lago kommt, dass sich unter der Knute von Outlaws befindet. Erst als er die Bewohner zwingt, ihre Stadt blutrot anzustreichen und in Hölle umzutaufen, begreifen sie, dass sie sich gegen ihre Unterdrücker wehren müssen.

Bundeskanzler Gerhard Schröder fühlte sich bei der Eröffnung Ende vergangener Woche in dem sozialdemokratischen Kolorit der Ausstellung sichtlich wohl. Gewohnt jovial und sich listig für seinen „krawalligen“ Auftritt nach der Wahl entschuldigend, empfahl er den Generaldirektor der Staatlichen Museen zu Berlin, Peter-Klaus Schuster, als Stellvertreter für solche Runden. Dessen salbungsvolle Rede hatte sich leidlich im Grenzgebiet von Kunst und Politik verfranst und er schien erleichtert, an den aufgeräumten Noch-Regierungschef abgeben zu können. Schröders Laudatio ehrte einen persönlichen, wenn auch „unbequemen“ Freund, der die Geschichte der beiden Hälften Deutschlands immer kritisch begleitet habe.

Zu Beginn seiner Karriere zum umstrittenen Nationalkünstler hatte sich der Beuys-Schüler Immendorff in Fluxus-Aktionen am demokratischen Zustand der Bundesrepublik gerieben. „LIDL“ schnurrte eine Kinderrassel in den Künstler-Ohren und gab seinem damaligen Kunstkontinuum den naiven Namen, der heute konsumistischere Assoziationen weckt. Mit einem ebenso beschrifteten Holzklotz in schwarz-rot-goldener Farbe am Fuß lief Immendorff im Bonner Regierungsviertel umher und wurde prompt verhaftet unter dem Verdacht, hier verunglimpfe jemand die deutsche Trikolore. Vor das Bundeshaus lud er in eine fragile Hütte aus Holz und Papier zur Diskussion. Der LIDL-Raum wurde unter Gewalteinsatz von der Polizei zerstört, als wollten sie die von Immendorff beklagte Unverhältnismäßigkeit der Mittel noch besonders demonstrieren. Im LIDL-Sportverein wurde für Olympia 1972 in München trainiert, daraus wurde leider nichts trotz handbestickter Trikots.

Als pädagogisch ambitionierter Kunsterzieher predigte Immendorff Kritik und Selbstkritik, erging sich in maoistischen Fantasien, ermahnte Kollegen, sich ihrer Kunst zu vergewissern, und versuchte die ästhetische Symbiose von Comic und sozialistischem Realismus. Im Rückblick auf eine Zeit, deren öffentliche Vertreter gerade den Hut nehmen, der interessanteste Teil der Ausstellung. Mit dem endgültigen Abschied von der Schönmalerei fand Immendorff dann Mitte der Siebzigerjahre zu seinem Stil und auch zu seinem Thema. Im Zyklus „Café Deutschland“ rechnet er mit der deutschen Wiedervereinigung ab. Auf der Terrasse des „Café de Flore“ sitzen Künstler, Literaten und Politiker Seite an Seite. Marcel Duchamp nippt an seinem Rotwein, Heiner Müller raucht Zigarre, Sartre verdreht die Augen und Beuys kehrt den Dreck weg. Im 1993er Riesenformat „Gyntiana“ macht Immendorff als Selbstporträt im Kimono den Fächertanz vor der illustren Gesellschaft. Vor diesem Hintergrund mythischer Künstlerprominenz sprach Gerhard Schröder bei der Eröffnung von „Visionen“ und „Diagnosen der Zeit“. Ihm schräg gegenüber hing „Deutschland in Ordnung bringen“ von 1983 wie eine Drohung. Kaffeehaus oder Parlament, Freudenhaus oder Theaterbühne? Kaum zu deuten, ob in dem New-Wave-düsteren Figurenreigen unselige Relikte zelebriert oder Utopien organisiert werden. So geriet die Eröffnungsveranstaltung auch zu einem unfreiwilligen Sinnbild der gegenwärtigen Situation. Einen Schritt zurück und sich im Café de Flore einen freien Platz suchen oder einen Schritt nach vorn und den Staat in Ordnung bringen?

Immendorff hatte 1966 die Kunstszene mit seinem Manifest-Bild „Hört auf zu malen!“ verunsichert. Er hielt sich nie daran. Bis er vor einigen Jahren an der unheilbaren Nervenkrankheit ALS erkrankte, die zur Lähmung der Extremitäten und Organe führt. Inzwischen sitzt Immendorff im Rollstuhl und lässt malen. Seinen Assistenten und Schülern dirigiert er die Pinsel, die Bilder scheinen sich um Leid und Tod zu drehen.

Aber die politische Schärfe ist aus den Leinwänden gewichen, stattdessen werden sie dekorativ. Zitate aus der Druckgrafik der Renaissance und mit Luftpolsterfolie amorph auf schwammig marmorierte Leinwände gestempelte Formen lassen die Gemälde seltsam blutleer wirken. Die vornehme Blässe erinnert nun eher an die anämische Malerei der Leipziger Schule als an kämpferisches Agitprop und provokantes Deutschtum, für die Immendorff Ruhm und Ruch erlangte.

„Immendorff. Male Lago – Unsichtbarer Beitrag“. Bis zum 22. Januar 2006, Neue Nationalgalerie Berlin. Katalog, 900 Seiten, 40 €