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Archiv-Artikel

DIE MEINUNGSMACKER

VON BARBARA HANS Deutsche Zeitungen sind voll von klugen Kommentaren, wegweisenden Ideen, schlauen Volten. Doch eine Auswertung überregionaler Blätter zeigt: Fast immer stammen sie von Männern. Was ist mit der weiblichen Hälfte der Bevölkerung? Ein Plädoyer

SO WURDE GEZÄHLT

■ Als „Leitartikel“ wurden die zwei beziehungsweise drei exponierten Kommentare auf den Meinungsseiten oder der Seite eins definiert. Folgende Zeitungen wurden zwischen dem 23. 2. 2012 und dem 15. 3. 2012 ausgewertet:

■ Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ): 39 Leitartikel, zwei von Autorinnen = 5 Prozent. Süddeutsche Zeitung: 38 Leitartikel, fünf von Autorinnen = 13 Prozent. Die Welt: 38 Leitartikel, drei von Autorinnen = 8 Prozent. Die Zeit: acht Leitartikel, drei von Autorinnen = 38 Prozent. Der Tagesspiegel: 19 Leitartikel, fünf von Autorinnen = 26 Prozent. Frankfurter Rundschau: 19 Leitartikel, fünf von Autorinnen = 26 Prozent. die tageszeitung: 19 Leitartikel, zehn von Autorinnen = 52 Prozent. Bild: 19 Leitartikel, zwei von Autorinnen = 10 Prozent. Von insgesamt 199 Artikeln wurden 35 von Autorinnen verfasst.

■ Die Stichprobe erhebt nicht den Anspruch, repräsentativ zu sein. Sonntagszeitungen wurden nicht berücksichtigt.

Wenn es jemand wissen muss, dann die oberste Behörde im Staat. Das Frauenministerium hat ihrer Klientel gleich eine ganze Broschüre gewidmet, und wer nachlesen will, wie es um die „Frauen in Deutschland“ bestellt ist, muss Seite 51 aufschlagen. Dort, im Kapitel „Frau und Beruf“, steht, dass Frauen in den Medien als Show- und Quizmasterinnen „signifikant auf dem Vormarsch“ sind.

Herzlichen Glückwunsch, liebe Chromosomengenossinnen, möchte man sagen, wir haben es geschafft. Die Showtreppe blinkt erwartungsfroh, jetzt muss die Lösung auf die Fragen der Emanzipation nur noch eingeloggt werden.

Die Ulla Kock am Brinks, Carmen Nebels und Sonja Zietlows haben uns als blond gesträhnte Heilsbringerinnen den Weg gewiesen, mitten ins Scheinwerferlicht. Dort darf sinnentleert geplaudert und ein guter Eindruck gemacht werden.

Weniger schön ist das, was sich im Journalismus tut. Nämlich viel zu wenig. „In den überregionalen Zeitungen sind Frauen in Spitzenpositionen so gut wie nicht vertreten“, schreibt das Ministerium. Männer bestimmen, was in der Zeitung steht. Wer aber schreibt, was in der Zeitung steht? Die Quotendebatte, so wichtig und richtig sie ist, verstellt den Blick darauf, dass es allein mit Führungsmacht nicht getan ist. Es braucht auch Meinungsmacht.

Die Versuchsanordnung: drei Wochen in Deutschland, Ende Februar bis Mitte März, die acht größten überregionalen Zeitungen und ihre Leitartikel sowie eine Liste für die Auswertung. Das Ergebnis: Frauen haben weder Macht noch Meinung. Nur rund 18 Prozent aller Leitartikel sind von Frauen verfasst. Und die Quote wird nur durch eine gerettet: die tageszeitung. Rechnet man die taz und ihre zahlreichen Kommentarschreiberinnen heraus, sinkt der Anteil in den großen deutschen Zeitungen auf mickrige 14 Prozent.

Dass sich eine weibliche Perspektive lohnt, Frauen und Männer verschieden sind, anders kommunizieren und offenbar anders denken, wird kaum jemand bestreiten. Zumindest nicht diejenigen, die im Rahmen der Quotendebatte den Frauen vorhalten, sich nicht ausreichend in den Vordergrund zu drängen – anders als die Männer. Eher die leisen Töne anzuschlagen – anders als die Männer. Ganze Seminare beschäftigten sich damit, die Frauen zu mehr Männlichkeit zu erziehen: immer auf die Eins, immer aus den Vollen. Auch leisere Töne können klug sein und lesenswert und pointiert, berechtigt und bereichernd. Nur gibt es sie kaum.

Bei der FAZ sind auf der Seite eins zwischen dem 23. Februar und dem 15. März 39 Leitartikel erschienen, zweimal durfte eine Frau ran. Das entspricht einer Quote von 5 Prozent; letzter Platz, was die Geschlechtervielfalt der Autoren angeht. Der „kluge Kopf dahinter“ gehört fast immer einem Mann.

Die Welt schafft bei ähnlichem Output wie die FAZ 8 Prozent. Die Bild setzt ebenfalls darauf, dass vor allem die Männer die Meinung bilden, nur zweimal durfte eine Frau schreiben, das entspricht 10 Prozent der Kommentare. Die Süddeutsche Zeitung kommt mit 13 Prozent auf wenig mehr. Der Tagesspiegel lässt immerhin jeden vierten Leitartikel von einer Frau schreiben, wie auch die eben in Insolvenz gegangene Frankfurter Rundschau.

Bei der taz, die als Einzige unter den Zeitungen von einer Frau geleitet wird und sowieso immer alles anders macht, herrscht Gleichberechtigung. Ein Tusch auf 52 Prozent Kommentatorinnen, die es sehr wohl schaffen, über Datenschutz, Wahlen, Unternehmenspleiten und Bürgerkriege zu schreiben (statt nur über Handtaschen, Faltencremes und Kinderbetreuung, Themen, bei denen man Frauen gerne ein originäres Interesse unterstellt). Und nun: Klappe halten, weiterackern? Auf keinen Fall! Es muss sich etwas ändern. Nicht aus Empathie. Nicht aus Nettigkeit. Nicht wegen so etwas Schwabbeligem wie Gerechtigkeit. Nicht wegen schlechten Gewissens, sondern wegen schlechter Auflagen. Die Qualitätsmedien des Landes können es sich nicht leisten, 50 Prozent der potenziellen Zielgruppe abzuweisen.

Wer ausschließlich Männer die Welt erklären lässt, erklärt sie vor allem Männern.

63 Prozent der FAZ-Leser sind Männer, 62 Prozent der Welt-Leser. Zeitungen, die auch Leitartikelschreiberinnen zu Wort kommen lassen, haben mehr Frauen in der Leserschaft.

Das Potenzial von Frauen zu erkennen ist nicht nett – es ist notwendig. Es ist überlebenswichtig zu erkennen, dass Frauen in Deutschland nicht nur seit 94 Jahren wählen dürfen, sondern sich auch für Politik und – ja, tatsächlich – auch Wirtschaft interessieren. Frauen brauchen Zeitungen nicht nur, um Schnittblumen eingewickelt vom Markt nach Hause zu tragen.

Allen Bedenkenträgern sei gesagt, dass Zeitungsforscher längst herausgefunden haben, dass für Frauen nicht entscheidend ist, welches Thema ein Text behandelt. Sie lesen sogar Texte aus dem Sportressort, sogar über Fußball. Entscheidend ist die Aufbereitung. Mehr Kontext, mehr Personen, mehr Relevanz, mehr Abwägung, mehr Gefühl. Nicht nur die Zahlen, sondern auch ihre Bedeutung. Nicht nur Zitate, sondern auch ihre Einordnung. Nicht nur die These, sondern auch die Antithese.

Die Erfolgsgeschichte der Zeit zeigt, wie das gelingen kann. Auf der Titelseite finden neben Krieg auch Kinder, Küche, Kirche statt. Von den acht Leitartikeln im untersuchten Zeitraum wurden drei von Frauen geschrieben, die Leserschaft besteht zur Hälfte aus Frauen.

Frauen haben weder Macht noch Meinung. Es ist aber dringend notwendig und überlebenswichtig, dass das Potenzial von Frauen erkannt wird

Der Anteil der Frauen in den Redaktionen ist weit größer als in den Führungsetagen. Und die Quotendebatte zeigt auch, wie dehnbar Zahlen sind. Chefredakteure haben sich alle Mühe gegeben, die eine oder andere Frau aus den angestaubten Ecken des Impressums ins Rampenlicht der Statistik zu schieben. Dabei geht es nicht allein um Positionen, sondern um Einfluss. Die Leitartikel sind die Showtreppe der Printmedien, also rauf da! Das ist ein Appell an die schreibwilligen Frauen und ihre Vorgesetzten.

Männliche Kommunikation ist oft klarer, für Subtext lässt manches große Ego wenig Platz, aber auch nicht für Selbstzweifel. Frauen tappen regelmäßig in die Rechtfertigungsfalle. Der Kollege vertritt sonnenköniggleich eine Meinung, die qua Pluralis Majestatis ohnehin mehrheitsfähig ist. Die Kollegin argumentiert, wägt ab, denkt laut, und am Ende wird ihr unterstellt, keine Meinung zu haben. Warum sonst so viele Worte?

Wenn also die Chefredakteure des Landes klagen, in ihren Redaktionen fänden sich keine karrierewilligen und -fähigen Kolleginnen, auch keine, die in der Lage wären, einen Leitartikel zu schreiben, so stellt sich die Frage, ob sie vielleicht allzu sehr damit beschäftigt sind, nach ihresgleichen zu suchen.

Bei diesem Artikel handelt es sich um die authentische Version eines Textes, der zuerst auf Spiegel Online erschien.

Barbara Hans, 31, ist Ressortleiterin bei Spiegel Online. Wenn sie an der Universität oder der Akademie für Publizistik unterrichtet, trifft sie auf deutlich mehr Volontärinnen als Volontäre. Wenn sie aber die Meinungsseiten der Zeitung liest, findet sie fast nur Texte männlicher Kollegen.