: Absacken in Eisenach
Die thüringische Stadt unter der Wartburg sollte sich dringend ein neues Motto suchen
Bei ihren verzweifelten Versuchen, ihren meist minderwertigen Städten im Kampf um Publicity haushohe Bedeutung, traditionsgetränkten Glanz oder ökonomisches Gewicht zu verleihen, greifen deutsche Stadtobere zu immer hochfahrenderen, immer ratzdämlicheren Etikettierungen. Dass eine Industriekommune wie Solingen als „Klingenstadt“ firmiert, mag ja noch angehen, auch wenn das die Assoziation einer pausenlos die Klingen kreuzenden und wider den Nächsten erhebenden Bevölkerungsbrut nahe legt. Doch weshalb sich Frankfurt am Main, lange bevor die Europäische Zentralbank hier heimisch wurde, zur „Europastadt“ aufgeworfen hat, dürfte selbst dem ärgstens Grübelnden ein Rätsel bleiben – von den Bad Homburger Torheiten im Umkreis ganz zu schweigen. Trotz des Markenzeichenspruchs „Champagnerluft mit Tradition“ ist die Geldsackstadt im Taunus das, als was sie Eckhard Henscheid vor Jahren bezeichnet hat: ein „Saustall“.
Weiter südlich behauptet Darmstadt von sich, eine oder die „Wissenschaftsstadt“ schlechthin zu sein, obgleich hier wahrscheinlich nachweislich die unnachgiebigsten Fortschrittsverweigerer walten und obwalten, während Schrobenhausen in Bayern hinwieder vergleichsweise demütig auf seinen Status als „Europäische Lenbachstadt“ pocht. Das allerdings lassen sich die Marketinggenies im unweit entfernten Donauwörth nicht bieten und installieren über den Perrons ihres sagenhaften Bahnhofes Schilder, die nämliche Gemeinde gleich zwiefach als „Stadt der Käthe-Kruse-Puppen“ und „Hubschrauberstadt Europas“ preisen.
Während im westlichen Teil des Landes die PR-Köpfe rauchen und rotieren, geht man die ganze Stadtvermarktungssache und -arie im Osten wesentlich gelassener an. Eisenach zum Beispiel präsentiert sich schlicht und gewissermaßen einleuchtend als „Wartburgstadt“, denn über eine Wartburg, auf der ein Sängerkrieg und ein Wartburgfest stattgefunden haben mögen und Luther durch seine Bibelübersetzung aus dem Griechischen die Erschaffung der neuhochdeutschen Einheitssprache angestoßen haben soll, verfügt die Kleinstadt ja zweifellos.
Fürs Auge problemlos erkennbar sind indes weitere Vorzüge der Stadt der Bibelübersetzung aus dem Griechischen. Nein, nicht das 1902 errichtete Burschenschaftsdenkmal samt 1933 eingeweihtem Ehrenmal für die gefallenen Schmissköpfe des Ersten Weltkriegs wäre da zu nennen, sondern Häuser, Häuser und noch mal Häuser sind in Anschlag zu bringen. An allen Ecken und Enden beherbergt Eisenach, die Stadt der Häuser, Häuser, etwa das Lutherhaus und das Bachhaus am Frauenplan sowie das Schmale Haus am Johannisplatz, das bei einer Breite von 2,05 Metern und einer Grundfläche von 20 Quadratmetern wahrscheinlich schmalste Fachwerkhaus Deutschlands, Europas und „der zivilisierten Welt“ (Eisenacher Tagespost, 4. Dezember 1900).
Der Jazzmusiker und, wie er sagt, einem „VEB Nichts“ vorstehende Inhaber Klaus Trippstein pflegt das mutmaßlich über 250 Jahre alte, 8,50 Meter hohe, zweistöckige Gebäude, indem er lautstarke Führungen organisiert, seine Sammlung von Dienstbotenrufanlagen, Bandmaschinen, Bildern und Blasinstrumenten vom Sperrmüll betrachtet und im „Handtuch“ (Volksmund) Singles auflegt, denn das Handtuch ist nicht breit genug, um LPs abzuspielen.
Ansonsten zieht es ihn, sofern er nicht vom Fenster aus die Dienstgänge des Bürgermeisters kontrolliert, gegenüber in die Wirtschaft „Wartburghof“, die längst zum Weltkulturerbe hätte ernannt werden müssen, schon ihrer Schaumkunststofftischdecken und eines Wirtes wegen, der den Krug mit einem äonenlang nicht mehr gehörten „Prostata!“ abstellt.
„Stadt des Schmalen Hauses“ Eisenach also – das wäre das Mindeste, wozu sich die Verantwortlichen durchringen könnten. Sollten die Opelstädter andererseits fürderhin aber nicht doch lieber in der Außendarstellung voll auf ihre wirtschaftlichen Kräfte setzen? In der Nähe des Automobilwerks steht ein so genannter „Absack- und Palettierbetrieb“, und mag man sich auch fragen, was denn da abgesackt wird – vielleicht bereitet man ja das Absacken, Abwracken und Abreißen ganzer reichlich überflüssiger ostdeutscher Gegenden vor und sackt dabei Aufbau-Ost-Gelder satt ein –, das wäre dann definitiv der entscheidende PR-Tigersprung nach vorn. Doch, „Absackstadt“ Eisenach, das ließen wir uns gefallen, das leuchtet uns zumal während eines weiteren Abends im Gasthaus auf dem Hörselberg oder im „Wartburghof“ mehr als glasklar ein. Nämlich gläserklar. Na freilich. JÜRGEN ROTH