: Und sie bewegt sich doch nicht
Die Flat Earth Society ist davon überzeugt, dass die Erde ein Scheibe ist. Unbeweglich steht sie da, und die Sterne sind auch nicht weiter von uns entfernt als Boston von San Francisco
VON ARIEL MAGNUS
Jetzt mal im Ernst: Woher wissen wir, dass die Erde kugelförmig ist? In der Schule wurde uns eingetrichtert, ein paar alte Kugelscheißer – Newton, Kopernikus, und wie die alle damals hießen – hätten ein paar Theorien zusammengebastelt, die jene Behauptung faktisch untermauern sollten. Theorien wohlgemerkt, die kein normaler Mensch verstehen kann, geschweige denn ein normaler Schüler. Doch einen augenscheinlichen, handgreiflichen Beweis haben sie nie geliefert. Erst vor ein paar Jahrzehnten sollten alle Zweifel beseitigen werden, als die Satelliten die ersten Aufnahmen unseres Planeten in voller Größe sendeten. Na und? Woher wissen wir, dass diese schönen bunten Fotos auch echt sind?
Auf der anderen Seite – oder besser gesagt: am entgegengesetzten Ende derselben – kann jeder Mensch, ja sogar jeder Schüler sich vom Gegenteil überzeugen, und zwar ohne Theorienkram oder dubiose Urkunden. Man braucht nicht einmal zum anderen Pol zu fahren, wo die Menschen immer noch aufrecht stehen, obgleich sie angeblich „unten“ sind; man braucht lediglich vom Balkon aus in die Ferne zu gucken, um die unwiderlegbare Wahrheit ganz spontan zu erkennen: Die Erde ist flach. Wie eine Schallplatte oder eine Frisbeescheibe. Einfach so: einfach flach.
Schwer zu verstehen, wie wir uns von dieser einfachen Tatsache wegtheoretisieren ließen. Zumal eine Gesellschaft seit Jahrzehnten, Jahrhunderten, ja Jahrtausenden dafür kämpft, dass wir an ihr festhalten. „Die International Flat Earth Society ist die älteste kontinuierliche Gesellschaft der Erde“, heißt es in einem Flyer, der im Internet für die Nachwelt aufbewahrt wird. „Sie begann mit der Schöpfung der Schöpfung. Und eines wissen wir mit Sicherheit: Die bekannte bevölkerte Welt ist eine flache, ebene, glatte Welt.“
Bis vor kurzem wurde die Gesellschaft der flachen Erde von einem Amerikaner namens Charles K. Johnson geleitet, der sich gern als „der letzte Ikonoklast“ ansah. Seine Botschaft lautete: Die Neuzeit – wie fast alle Zeitalter, nebenbei bemerkt – basiert auf einem Irrtum. „Die Wissenschaft ist eine falsche Religion, das Opium des Volkes. Sowohl Copernecious (sic) als auch Newton, die Erfinder der ‚modernen‘ Aberglauben (400 Jahre alte Modernität), sagten: Es ist nicht möglich für einen gesunden, vernünftigen Menschen, diesen Theorien jemals Glauben zu schenken.“Für Johnson und seine Anhänger sind nicht nur alle Raumfahrten gefälscht (die bekannte These, wonach die Mondlandung nach einem Drehbuch von Arthur C. Clarke in Hollywood gedreht worden sei, wurde von der Society verbreitet, wenn nicht sogar selbst erfunden), sondern ist auch die ganze Kosmogonie falsch: Unsere Erde, flach wie ein Hamburger mit dem Nordpol in der Mitte, sei im Süden von einer 50 Meter hohen Mauer aus Eis umgeben, die niemand jemals durchbrochen hat. Wir werden von zwei winzigen Planeten beleuchtet, von einer auf 32 Meilen Durchmesser geschrumpften Sonne und von einem Mond, der sein eigenes Licht ausstrahlt. Das wechselnde Versteckspiel zwischen Tag und Nacht, unwahrscheinlich in einem Universum ohne Hinterseiten, ist für die Flacherdler das Ergebnis einer optischen Täuschung – wie bei den zwei Eisenbahnschienen, die im Horizont zusammenzulaufen scheinen. Weder Mond noch Sonne, noch Erde bewegen sich, die Sterne seien „so weit weg wie Boston von San Francisco“.
Unter den Mitgliedern der Society ist Kolumbus hoch angesehen. Seine Besatzung habe gegen ihn revoltiert, so die eigenwillige Geschichtsschreibung der Flacherdler, weil sie die Erde für einen Ball hielt und glaubte, nach der Kurve zu stürzen und nicht zurückkehren zu können. Nur mit Mühe habe Kolumbus dieses ignorante Volk davon überzeugen können, dass sie einfach eine Runde um den Nordpol drehen würden, weiter nichts. Ob der Italiener für seine Beweisführung statt eines hart gekochten ein Spiegelei benutzt hat, bleibt ungeklärt. 1492 vor Christus soll der erste Flacherdler gelebt haben: Moses. Denn im Grunde sind die Flachdenker Bibelfanatiker. „Die kopernikanische Theorie zielt darauf ab, Jesus loszuwerden“, meint Johnson. Logisch: Die Gravitationstheorie relativiert die Konzepte „Oben“ (Himmel) und „Unten“ (Hölle), Christi Himmelfahrt kann es so nicht gegeben haben. Auch die Bedingung für eine Weltherrschaft laut Jesaja 60,20 – „Deine Sonne wird nicht mehr untergehen“ – würde auf einem Erdball nur schwerlich zustande kommen. „Mit der Sache vom Erdspieß wird die ganze Bibel zu einem großen Witz“, erklärt Johnson.
Die moderne Revitalisierung dieser prämodernen Denkweise geht bis ins 19. Jahrhundert zurück. Der Engländer Samuel Birley Rowbotham alias Parallax druckte 1849 ein Pamphlet über zetetische Astronomie, gefolgt später von zwei dicken Abhandlungen. Parallel dazu hielt Parallax jahrelang überall in England öffentliche Reden, in denen er immer wieder seine flache Wahrheit verkündete. Nebst biblischen Zitaten versuchte Rowbotham, auch wissenschaftlich zu wirken. Er las ein Leuchtturm-Nachschlagewerk für Kapitäne und entdeckte, dass – laut Augenzeugen – in mehreren Fällen die Leuchttürme immer noch zu sehen waren, auch wenn die angebliche Krümmung der Welt dies nicht mehr erlauben sollte. Eine bewundernswerte, höchst überzeugende Beweisführung, hätte ein Gegner nicht entdeckt, dass Rowbotham nur 1,5 Prozent der Fälle berücksichtigt hat.
Trotzdem hatte Rowbotham eine ganze Reihe von Anhängern (darunter John Hampden, der einen langjährigen Krieg mit dem Naturalisten Alfred R. Wallace führte) und hinterließ die zetetisch-astronomischen Fundamente, die später in die Gesellschaft einflossen. Ihr Ziel – die USA sollten die Erde zur Scheibe erklären – blieb leider unerreicht, aber an symbolischen Belohnungen hat es nicht gefehlt. „Nach dem Krieg“, erzählt Johnson, „war die Welt im Begriff, als flach erklärt zu werden, und Roosevelt würde der erste Präsident dieser Welt sein. Die Karte der Flachwelt wurde als Symbol für die UN benutzt.“
Die Gesellschaft zählte in ihren besten Zeiten bis zu 3.000 Mitglieder, einen Briefverkehr von tausend Briefen pro Monat und eine quasireguläre Zeitschrift. Doch diese goldene Ära ist längst vorbei. 1995 machte ein Brand das Haus der Johnsons mitsamt allen Papieren flach; 2001 starb Johnson; 2005 ging die Heavy-Metal-Band „Flat Earth Society“ auseinander.
Was bleibt, ist eine Webpage mit Foren (www.theflatearthsociety.org) und das Buch von Rowbotham (komplett unter www.sacred- texts.com/earth/za zu genießen). Nicht einmal diese digitalen Reste seien echt, meinen die Ungläubigen. Jeffrey Russell vom Westmont College bestreitet sogar, dass die Kirche jemals von so etwas Blödem überzeugt gewesen wäre: Die Flache-Erde-Idee sei ein Mythos der Darwinisten, um die bibeltreuen Christen als Dummköpfe darzustellen. Wie auch bei Gott besteht der einzige tragende Beweis für die Existenz auch dieser Idee darin, dass ihre Nichtexistenz ewig unbeweisbar bleiben wird.