BARBARA BOLLWAHN über ROTKÄPPCHEN : Ein Männlein steht im Wald
Schon früher im Osten schossen Pilze wie Pilze aus dem Boden. Aber welche sind giftig, welche gesund?
Als Kind kann man sich gegen viele Dinge nicht wehren. Man ist ihnen einfach ausgeliefert und Punkt. Pilzesammeln zum Beispiel. Was habe ich es gehasst, wenn mein Vater sonntagmorgens um acht durchs Haus rief: „Kinder, es geht in die Pilze!“ Kaum hatten meine Schwestern und ich uns den Schlaf aus den Augen gerieben, mussten wir auch schon in die Gummistiefel steigen, einen Korb in die Hand nehmen und ab ging’s ins sächsische Dölitzsch-Tal. Ob wir dazu Lust hatten, war egal.
Da ist es nur verständlich, dass wir den Morgentau auf den Wiesen nicht sahen, für den mein Vater schwärmte. Wir wollten zurück in unsere Betten, mit unseren Puppen spielen, Rollschuh fahren oder was weiß ich. Doch unser Jammern half nichts. Gnadenlos wurden wir durchs Unterholz getrieben, auf der Suche nach essbaren Gewächsen des Waldes. Damals hatte ich keine so richtige Vorstellung von der Versorgungslage im Osten. Aber an diesen Sonntagen im Wald dachte ich manchmal, dass es nicht gut bestellt sein konnte, wenn wir unserem Vater nicht mit einem leeren Korb unter die Augen treten durften.
Die einzige Möglichkeit, bald wieder nach Hause gehen zu dürfen, war aber ein halbwegs gefüllter Korb. Also hielten wir Ausschau nach Steinpilzen, Birkenpilzen, Riesenschirmpilzen oder Pfifferlingen, je nach Saison. Um die Sache zu einem schnellen Ende zu bringen, nahmen wir auch Pilze mit, die wir nicht kannten. Hauptsache, der blöde Korb war voll.
Das war ein großer Fehler. Kaum waren wir wieder zu Hause, sortierte mein Vater die Pilze aus, die er kannte, und gab sie meiner Mutter zum Putzen. Die Exemplare, die er nicht kannte, drapierte er auf dem Küchentisch und fotografierte sie für seine Pilz-Dia-Sammlung. Mit diesen Pilz-Dias ging mein Vater sogar in Schulen, um Vorträge zu halten. Im Osten wurde nicht nur vor dem Klassenfeind gewarnt, sondern auch vor giftigen Pilzen.
Kaum hatte mein Vater die Pilze mit der Kamera festgehalten, nahm er sich seine Pilzbestimmungsbücher vor, von denen er fast so viele hatte wie Pilz-Dias. Mir kam das total bescheuert vor. Erst suchte er Pilze im Wald, dann suchte er die, die er gefunden hatte, in Büchern.
Eines Tages musste es kommen, wie es kommen musste. Nachdem mein Vater Stunden damit zugebracht hatte, einige für ihn sehr interessante Exemplare für essbar zu befinden, beschlichen ihn Zweifel. Kaum hatten wir die Pilzmahlzeit zu uns genommen, sollten wir sie erbrechen, damit sie nicht zur Henkersmahlzeit würde. Zu diesem Zweck mussten wir literweise Wasser, angereichert mit viel Salz, trinken. Mein Gott, was haben wir gekotzt.
Letzten Sonntag war ich nach langer Zeit wieder in den Pilzen. Statt im Dölitzsch-Tal in Sachsen schwenkte ich meinen Korb im Maggia-Tal im Tessin, wo ich mit zwei Freunden Urlaub machte. Diesmal waren es ökonomische Gründe, die uns in den Wald trieben. Bekanntlich ist die Schweiz ein teures Fleckchen Erde, und so freuten wir uns über jeden Pilz, den wir fanden.
Ohne die von meinem Vater organisierten sonntäglichen Ausflüge hätte ich mich nicht mit solch einer schlafwandlerischen Sicherheit im Wald bewegen können. Trotz aller Abneigung damals ist zum Glück einiges an Wissen hängen geblieben. Auch ohne Pilzbestimmungsbücher war ich mir sicher: Es würde ein schmackhaftes, uns ungefährliches Mahl werden.
Kaum war die Pilzpfanne verspeist und der letzte Rülpser verklungen, beschlichen mich Zweifel, so wie damals meinen Vater. Waren die zwei, drei Exemplare, bei denen ich mir nur zu 99 Prozent sicher war, vielleicht doch giftig? Ein Scheißgefühl.
Weil wir keinen Bock auf Salzwasser hatten, nahm ich den Fotoapparat zur Hand. Statt Bilder von unbekannten Pilzen zu machen, fotografierten wir uns vor den leeren Tellern. Um die möglicherweise letzten Minuten vor unserem Tod festzuhalten, um Spekulationen über den Selbstmord von zwei Ostlern und einem Schweizer in den Bergen vorzubeugen. Und die Moral von der Geschicht’? Es war war doch nicht alles schlecht im Osten.
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