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Archiv-Artikel

Katharsis durch Krach

KRACH-EXPERIMENTE Mit „The Seer“ haben die unlängst reanimierten Swans ihr monumentales Opus Magnum veröffentlicht: die verdichtete Quintessenz aus 30 Jahren düster-aggressiver Klang-Intensität

„The Seer“ verdichtet und verfeinert alles, was Giras Schall-Seelsorge ausmacht

VON ROBERT MATTHIES

Groß war die Freude, als Michael Gira vor zwei Jahren endlich auch offiziell bekannt gegeben hat, dass er seine legendäre Düster-Krach-Kombo Swans zu reaktivieren gedenkt. Kurz darauf ist dann vierzehn Jahre nach „Swans Are Dead“ tatsächlich wieder ein Studio-Album der New Yorker No-Wave-, Postpunk- und Noiserock-Helden erschienen. „My Father Will Guide Me Up a Rope to the Sky“ heißt die allenthalben begeistert aufgenommene spirituelle Rückkehr zur düster-aggressiven Klang-Intensität und zum abgründigen Sarkasmus. Acht Stücke mit so erhebenden Titeln wie „You Fucking People Make Me Sick“ finden sich darauf. So erhebend, „als löschten sie deinen Körper aus und höben dich in den Himmel“, wie Gira verlauten lässt.

Auch live haben die reanimierten Swans schließlich wieder an ihr schmerzhaft lautes Erbe angeknüpft. Immer noch, ist Gira zufrieden, seien ihre Konzerte auch physisch unvergessliche Ereignisse: Krach-Kathedralen, in denen der Seele Flügel verliehen werden – und zugleich der Körper zerstört wird. Überzeugen konnte man sich von der wiedergewonnenen Intensität im Frühjahr auf dem Live-Doppelalbum „We Rose from Your Bed With the Sun in Our Head“. Und von Giras unbedingtem Willen, auch fürderhin seinen Posten als unerreichter Hohepriester der Klang-Katharsis zu verteidigen. Denn das Livealbum hatte vor allem ein Ziel: das nächste markerschütternde Werk der Swans zu finanzieren.

Etliche hundert Stunden hat Gira an den Skizzen für „The Seer“ gearbeitet, nun ist nach sechsmonatigem Studio-Martyrium – nach dem sich Gira nach Eigenauskunft gefühlt habe wie ein komplett ausgewrungener menschlicher Waschlappen – das zweistündige Brachial-Opus Magnum erschienen. Und zieht auf beeindruckende Weise Bilanz aus dreißig Jahren Swans, verdichtet und verfeinert all das, was Giras Schall-Seelsorge seit den frühen Achtzigern ausgemacht hat.

Eine gute halbe Stunde Zeit lässt sich allein das Titelstück, Dudelsäcke und Stahlcello taumelnd dröhnend ineinander, Gitarren, Bass und Schlagzeug weben zu mantrischem Gesang stoisch das immergleiche Muster in den endlos lang auslaufenden und sich schließlich in dissonanter Ekstase auflösenden Klangteppich. Auch das zwanzigminütige „The Apostate“ ist radikaler psychedelischer Klangwahnsinn, nach dem man sich nicht mehr sicher ist, ob man noch auf der Schwelle zur nächsten Bewusstseinsebene oder längst auf der anderen Seite steht, wo Schönheit und Hässlichkeit, Musik und Lärm, Katharsis und Drangsal nicht mehr zu unterscheiden sind. Die in ihrer Anmut nicht minder intensiven Ruhepausen hingegen währen nur kurz, wie der von Yeah Yeah Yeahs’ Karen O wundervoll sehnsüchtig gesungene „Song for a Warrior“.

Heute Abend wird die kathartische Krach-Kathedrale auf Kampnagel errichtet. Und bis zu den Grundmauern in Schutt und Asche gelegt. Mit dabei eine weitere Experimentalrocklegende: Ex-Sun City Girl Richard Bishop.

■ Do, 22. 11., 21 Uhr, Kampnagel, Jarrestraße 20