: Das Schweigen der Mehrheit
THEATER In „Fahrräder könnten eine Rolle spielen“ ballt das Autorenduo Marianna Salzmann und Deniz Utlu Eindrücke des heutigen Deutschlands zusammen – auch die Ermittlungspannen im Zuge der NSU-Morde
Unter der Regie von Lukas Langhoff, der in jungen Jahren bei Castorf, Kresnik und Schlingensief assistierte, kommt das neue Stück des Autorenduos Marianna Salzmann und Deniz Utlu ab Freitag auf die Bühne des Ballhaus Naunynstraße. Es ist das erste Theaterstück, dass sich mit den Morden des Nationalsozialistischen Untergrunds beschäftigt.
■ Naunynstraße 2. Premiere: Freitag 20 Uhr. Weitere Vorstellungen: 25.–30. 11., 20 Uhr. 14/8 €
VON ESTHER SLEVOGT
Ein Schelm, wer Böses dabei denkt: Ausgerechnet den Teilnehmern eines FDP-Parteitags werden in den Pausen Gerichte serviert, deren Hauptzutat aus Hirnmasse besteht. Früher, als der Kannibalismus als ehrbare Lebensform noch unumstritten war, glaubten die Verzehrer ihrer Artgenossen nämlich, mit dem Verspeisen gewisser Innereien gingen auch die Fähigkeiten ihrer Vorbesitzer auf die Vertilger über. Im vorliegenden Fall ist wohl alle Hoffnung vergebens. Zumindest wenn man hört, was der FDPler Mirko an rechtem Ressentiment sozusagen aus der Mitte der Gesellschaft auf Kellner Andreas niederprasseln lässt, den Protagonisten des neuen Stückes von Marianna Salzmann und Deniz Utlu.
Trotzdem ist die Hirnsuppe eine Grundmetapher des Stücks mit dem Titel „Fahrräder könnten eine Rolle spielen“. Denn eine solche Suppe entsteht bald auch im Kopf von Andreas, der Leiharbeiter einer Cateringfirma ist und so in unterschiedlichste deutsche Soziotope gerät, darunter auch der Bundestagsausschuss, der die skandalösen Ermittlungspannen im Zuge rassistisch motivierten NSU-Morde untersucht. All die widersprüchlichen Eindrücke speichert Andreas’ Hirn minutiös, wo sich ein unübersichtliches Konglomerat bildet und sich am Ende in einem Verbrechen entlädt.
Das Gefäß, in dem Marianna Salzmann und Deniz Utlu diese fatale Suppe zum Überkochen bringen, ist auch das identitätslose Deutschland, mit seinem von einer missglückten Vergangenheitsbewältigung in die nächste tappenden inneren Vakuum.
Jüdisch und türkisch
„Fahrräder könnten eine Rolle spielen“ ist ihr zweites gemeinsames Stück. Im vergangenen Jahr kam am Ballhaus Naunynstraße schon „Tod eines Superhelden“ heraus. Ihre Zusammenarbeit jedoch reicht bereits in gemeinsame Teenagerjahre Anfang des Jahrtausends in Hannover zurück, wo beide irgendwann begannen, in Jugend- und Kulturzentren regelmäßig interkulturelle Poetry-Slams und Lesungen zu organisieren. Marianna Salzmann, 1985 als Kind jüdischer Eltern im damals noch sowjetischen Wolgograd geboren und 1995 nach Deutschland gekommen, war damals sechzehn, Deniz Utlu, als Kind türkischer Eltern 1983 in Hannover geboren, achtzehn Jahre alt.
„Global Open Stage“ hieß eine dieser Slams, wo jeder Autor Texte in der Sprache seiner Wahl oder Herkunft lesen durfte, beispielsweise auf Russisch, Türkisch, Persisch oder Deutsch. „Und jeder hörte zu, auch wenn er die Sprache nicht verstand“, sagt Deniz Utlu beim Gespräch in einem Schöneberger Café. Unter der Überschrift „Freitext“ organisierten Salzmann und er eine weitere Lesereihe, und als Utlu nach dem Abitur nach Berlin zog, um Volkswirtschaft zu studieren (was er heute, neben seiner Autoren- und Herausgebertätigkeit, auch lehrt), wurde daraus die gleichnamige Zeitschrift für interkulturelle Literatur in Deutschland, die sie immer noch gemeinsam verantworten, inzwischen im zehnten Jahr.
Denkwürdige Formulierung
Längst lebt auch Marianna Salzmann in Berlin, hat an der UdK ein Studium abgeschlossen und ist eine preisgekrönte Dramatikerin. Ihr 2011 mit dem Kleistförderpreis ausgezeichnetes Stück „Muttermale Fester blau“ wurde im Mai im Rahmen der Recklinghausener Ruhrfestspiele uraufgeführt. Das Deutsche Theater Berlin brachte kürzlich die Uraufführung von „Muttersprache Mameloschn“ heraus, in dem Salzmann vor der Folie einer deutsch-jüdischen Generationsgeschichte die Frage untersucht, was es heißt, in Deutschland Jüdin zu sein. Mit Deniz Utlu hat sie schon lange vor dem ersten gemeinsamen Stück Prosatexte geschrieben, zuletzt den dialogische Text „Wutvögel singen“, der im Magazin des German Department der Universität Berkeley erschien. Wutvögel, Angry Birds, wie sie sich nun als Duo auch in ihrem Stück „Fahrräder könnten eine Rolle spielen“ nennen. Der Stücktitel geht auf die denkwürdige Formulierung von BKA-Chef Jörg Ziercke im Zusammenhang mit den Ermittlungen zu den rassistischen Morden der Zwickauer NSU-Zelle zurück. Obwohl die Beweislage schon lange deutlichere Schlüsse zugelassen haben muss, war dies die einzige Erkenntnis, zu der er sich durchringen konnte.
Mehrheitsdeutsche
Dass es problematisch ist, dass ausgerechnet sie beide als potenzielle Angehörige der Zielgruppe der Mörder sich nun mit dem Thema befassen, das sei ihm und Marianna Salzmann sehr bewusst, sagt Deniz Utlu. Denn die Gefahr besteht, dass man die rassistische Zuschreibung annimmt, in dem man darauf reagiert. Also einem in purem Rassismus begründeten Antagonismus letztlich affirmativ begegnet. „Eigentlich“, so Utlu, „wäre es die Sache der Mehrheitsgesellschaft, sich mit dem Thema zu befassen.“ Aber als Autor befasse man sich nun mal mit dem, was aus der Welt und der Gesellschaft zurückstrahle. Und hier sei eben das Schweigen der Mehrheit so verstörend, die offenbar nicht wahrhaben wolle, was doch so offensichtlich sei. Deshalb sei es ihm und Marianna Salzmann wichtig gewesen, dass sowohl der mordende Protagonist als auch seine Opfer im Stück „Mehrheitsdeutsche“ sind.
Zur Figur von Protagonist Andreas haben sich Salzmann und Utlu von Büchners mordendem Underdog „Woyzeck“ inspirieren lassen. Wichtiges Material lieferte auch die Journalistin Mely Kiyak mit ihren minutiösen Protokollen der Sitzungen des NSU-Ausschusses. Trotzdem ist die Handlung des Stücks frei erfunden. Doch „sollten sich Leute wiedererkennen oder angesprochen fühlen“, schreiben Salzmann und Utlu ganz am Anfang, „ist das ein gutes Zeichen.“