: Unbeherrscht durch Aachen
Der Prozess gegen drei Anarchisten endete mit harten Strafen und dem üblichen Eklat im Gerichtssaal
AUS AACHEN MICHAEL KLARMANN
Nach 23 Prozesstagen ist im „Kasperletheater“ (Indymedia) vor dem Aachener Landgericht der Vorhang gefallen. Angeklagt waren Anarchisten aus Spanien und Belgien, unter anderem wegen fünffacher Geiselnahme und versuchten Mordes. Ungeachtet der Vorwürfe jubelten an den Prozesstagen fünfzehn bis fünfzig Linksautonome den Angeklagten zu. Der mutmaßliche Rädelsführer trat in Unterhosen vor den Richter. Seine Schwester erschien in Bikini und Bademantel. Einmal entkleideten sich sogar die Sympathisanten im Gerichtssaal. Zweimal ließ der Richter den Saal räumen.
Spaß verstand die Kammer auch bei der gestrigen Urteilsverkündigung nicht: Der Baske Gabriel P. (37) wurde wegen Geiselnahme, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte und weiterer Straftaten zu einer Haftstrafe von 13 Jahren verurteilt. Der Mitangeklagte Jose Fernandez D. (45) muss sogar für 14 Jahre hinter Gittern, da er zudem einen Banküberfall in Karlsruhe begangen habe, so die Schwurgerichtskammer. Der Belgier Bart G. (26) wurde wegen Beihilfe zu einer Haftstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Begona P. (35), die Schwester von Gabriel P., kam mit einer zehn monatigen Haftstrafe davon, ausgesetzt auf drei Jahre zur Bewährung. Sie habe Hehlerei und Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte bei ihrer Festnahme begangen, sagte der Vorsitzende Richter Gerd Nohl. Nur der Vorwurf des versuchten Mordes wurde bei allen vier Angeklagten fallen gelassen.
Rückblick: Nach eigenen Angaben ist Gabriel P. im Juni 2004 in Sachen politischer Solidaritätsarbeit in Europa unterwegs. Jose Fernandez D. wohnt bei P.s Schwester in Karlsruhe. Beide Basken sind in Spanien aus der Haft geflohen. D. gibt der Frau Geld, wovon sie einen Gebrauchtwagen kaufen soll, den beide dann ins Nachbarland überführen. In Gent treffen sie auf Gabriel P., der angeblich gemeinsam mit D. weiter nach Tschechien will. Sie nehmen Begona sowie den Belgier Bart G. im Auto mit. Beide sollen ihren Aussagen zufolge in Aachen oder Köln abgesetzt werden, um mit dem Zug weiter fahren zu können. G. ist Mitglied der „Anti-Repressionsgruppe Anarchist Black Cross“. Diese hatte einst P. und D., die nach Raubüberfällen inhaftiert und in der Haft zu Anarchisten wurden, bei „Knastrevolten“ gegen die „unmenschliche Haftbedingungen“ unterstützt.
Indes gerät das Quartett in Aachen am 28. Juni 2004 in eine Kontrolle des Bundesgrenzschutzes. An einer Tankstelle ziehen D. und P. eine Pistole und einen Revolver, nehmen ein junges Ehepaar als Geiseln. Begona P. wird von BGS-Beamten festgenommen. Es beginnt eine Verfolgungsjagd quer durch das belebte Aachen mit Schüssen auf die Polizei. Bei einem Unfall wird eine Seniorin verletzt. Als das Fluchtfahrzeug defekt liegen bleibt, können die Geiseln fliehen.
D. und P. wollen dann den von der Situation überraschten G. gezwungen haben, in ein erneut gekapertes Fluchtfahrzeug einzusteigen. Später wird eine kleine Kfz-Werkstatt zum Fluchtpunkt, wiederum werden drei Geiseln genommen. Angesichts des massiven Polizeiaufgebots gibt man schließlich auf. Die Ermittler werden D. und Begona P. zudem später einen Banküberfall am 18. Juni 2004 in Karlsruhe mit knapp 30.000 Euro Beute vorwerfen. Dem Quartett werden überdies wegen aufgefundener, markierter Stadtpläne das Ausbaldowern von Überfällen auf Banken und Waffengeschäften in Dresden vorgeworfen.
In Erklärungen während des Prozesses führten Gabriel P. und Jose Fernandez D. die Eskalation darauf zurück, dass sie „spontan völlig durchgedreht“ seien. Beide waren jeweils über zwanzig Jahre in Spanien inhaftiert. Angesichts von Isolationshaft und Folter hätten sie bei der BGS-Kontrolle aus Furcht vor neuer Haft „überreagiert“. Banküberfälle hätten sie keine geplant, um sich nicht zu gefährden. Bewaffnet seien sie gewesen, um Polizisten „zu erschrecken“. So plädierten denn auch ihre Anwälte wegen der vorherigen Isolationshaft und Folter sowie der damit zu begründenden Überreaktion auf eine milde Bestrafung. Für Begona P. und Bart G. wurden sogar Freisprüche gefordert. Staatsanwalt Alexander Geimer forderte indes für D. eine Haftstrafe von 15 Jahren, Gabriel P. solle 14 Jahre und neun Monate hinter Gitter wandern, Bart G. sieben Jahre Haft und Begona P. eine 13 Monate dauernde Bewährungsstrafe erhalten.
Begonnen hatte der Prozess Ende März und er war, so Gerichtssprecher Holger Brantin damals, „großzügig“ auf zwölf Verhandlungstage terminiert worden. Doch die vielen Besucher, deren stehenden Ovationen für die Angeklagten jeweils zu Prozessbeginn, die Sicherheitsbestimmungen, die durch die Verteidigung beantragten Gutachten sowie Befangenheitsanträge gegen die Kammer sorgten für Verzögerungen. Schließlich erschien Gabriel P. aus Protest, weil er sich vor jedem Transport zwischen JVA und Gericht zwecks Kontrollen nackt ausziehen musste, nur noch in Unterhose zum Prozess und aß mit den anderen Angeklagten fast durchweg Süßigkeiten oder Kuchen. Vor Verfahrenspausen verabschiedete er sich manchmal von den feixenden Sympathisanten mit dem Ruf: „Tschau, geh‘ ins Schwimmbad“.
Irgendwann zogen sich dann auch sieben der aus Deutschland, Spanien, Belgien und den Niederlanden angereisten Sympathisanten im Gerichtssaal bis auf die Unterwäsche aus. Da sich einer der Linksautonomen trotz Nohls Anweisung nicht wieder ankleiden wollte, verhängte der Vorsitzende Richter eine dreitägige Arreststrafe. An einem anderen Prozesstag musste wegen Tumulten auf der Zuschauerbank zuerst der Saal geräumt, und kurz darauf ein Sit-in der Sympathisanten im Bereich der Sicherheitsschleuse vor dem Schwurgerichtssaal aufgelöst werden. Als die Plädoyers gehalten werden sollten reichten die Verteidiger unzählige Beweisanträge nach. Zugleich platzte ein Techtelmechtel zwischen P.s Schwester und deren Anwalt, weswegen die 35-Jährige einen neuen Rechtsbeistand einforderte. Da Nohl dies zuerst nicht einsehen wollte, erschien Begona P. aus Protest in Bikini und Bademantel im Gerichtssaal.
Angesichts der Schwere der Vorwürfe und des Umstandes, dass zwei der Geiseln aus therapeutischen Gründen an dem Verfahren teilnehmen sollten worauf aber offenbar niemand Rücksicht nehmen wollte, sagte Staatsanwalt Geimer in seinem Plädoyer: „Der Imbissbuden-ähnliche Betrieb im Gerichtssaal sei der Sache nicht angemessen“. Der langjährige Anklagevertreter in Staatsschutzsachen – geschult durch die einstmals schwer aktive Spontiszene Aachens – hatte im Anarchistenprozess noch einige Lektionen hinzulernen dürfen. Eine Premiere dürfte es auch für ihn gewesen sein, dass eine der fünf Geiseln, der Besitzer der kleinen Autowerkstatt, die von dem Trio besetzt wurde, sich nach seiner Zeugenaussage mit Handschlag von Gabriel P. verabschiedete. Da er ihm ein Geschenk per Post zukommen lassen wollte, erkundigte er sich zudem nach dessen Geburtsdatum.
Richter Nohl, der als Vorsitzender der ersten großen Schwurgerichtskammer schon einiges erlebt hat, fand in seiner Urteilsbegründung auch persönliche Worte zu den „Peinlichkeiten und Geschmacklosigkeiten“. Die dem Prozess beiwohnenden Geiseln hätten die „Kinderreihen“ als „Fortsetzung der Quälerei empfunden“. Gerade das Publikumsgeschehen habe „die Traumatisierung bei den Geiseln offensichtlich vertieft“. Doch ehe Richter Nohl das hatte sagen können, musste er zum zweiten Mal während des Prozessverlaufes den Saal räumen lassen: Rund 30 Sympathisanten standen schunkelnd auf den Gerichtsbänken und sangen spanische Revolutionsliedern
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