Entscheidung zwischen Schnauze und Tanzbein

Kino der Kindheit (10. und letzter Teil): An das allererste Kino erinnerten Postkarten im Kiosk von Herrn Keuner und Schlaglöcher auf dem Parkplatz

Ein Parkplatz mit vielen Schlaglöchern, eine hässliche Lücke zwischen dem Billigsupermarkt und der Kreissparkasse – das war das Kino meiner Kindheit. Als ich Anfang der Siebzigerjahre mit meine Eltern ins linksrheinische Kaarst zog, hatte man das kleine Dorfkino gerade abgerissen. Die kümmerlichen Reste der Leuchttafeln lagen noch lange vergessen in einer Ecke.

Im Zeitungs- und Süßigkeitenkiosk des kettenrauchenden Herrn Keuner gab es vom Nikotin schon leicht vergilbte Ansichtskarten, auf denen das alte Lichtspielhaus noch zu sehen war. Damals war die Kaarster Maubisstraße noch die Hauptstraße, und das Kino mit den Reklametafeln und Schauvitrinen voller Aushangfotos verlieh ihr tatsächlich etwas Glamouröses, ja eine gewisse Weltläufigkeit. Eine andere Postkarte zeigte das Kino in Großaufnahme. Ein paar Menschen stehen Schlange, und ein Plakat wirbt für „Spiel mir das Lied vom Tod“. Manchmal studierte ich diese Postkarten und wünschte mir, auch an der Kasse anzustehen, um in die Weite der Prärie zu reiten.

Doch stattdessen war da nur dieser öde Parkplatz mit seinen vielen Schlaglöchern, die, wenn es regnete, zu kleinen Tümpeln wurden, sodass sich die Autofahrer beim Aussteigen zwangsläufig voll sauten. Schadenfroh beobachtete ich ihre verärgerten Gesichter. Das hat man davon, wenn man ein Kino den Erdboden gleichmacht! Und was war das überhaupt für eine Welt, in der man den Samstagnachmittag damit verbrachte, den Wagen zu putzen, anstatt ins Kino zu gehen?

Natürlich gab es auch in meiner Kindheit den alljährlichen Kinobesuch mit Kind und Kegel, wenn der neue Disney auf dem Programm stand. Dann ging es nach Neuss, ins Gloria, und mit uns kamen unzählige andere Familien aus der kinolosen Umgebung. Eine beeindruckende Schlange versammelte sich vor dem Kassenhäuschen, und so fing die Aufregung schon lange vor der Vorstellung an. Würden wir überhaupt noch Karten kriegen? Und hoffentlich nicht in der ersten Reihe, wo man immer nur Bruchstücke eines Films wahrnehmen konnte. Zumindest in der Erinnerung erscheint es mir so, als hätten wir uns beim „Dschungelbuch“ zwischen Balus knuddeliger Schnauze und den tanzenden Beinen entscheiden müssen.

Wenn wir endlich alle saßen, kam uns das immer wie ein Wunder vor. Tatsächlich musste nie jemand draußen bleiben. Schon allein, weil im schönen Gloria mit seinen gemütlichen Polstersesseln und dem beeindruckenden Vorhang jedes Mal für alle Platz war, wurde das Kino für mich zum magischen Ort. Unsere Zauberer waren eine hagere Frau mit grauem Faltenrock und ein kleiner Mann mit riesigem Bauch, die uns mit wichtigtuerischen Mienen auf den Sitzreihen verteilten.

Um die Spannung und Vorfreude zu vergrößern, gab es noch die Tradition des guten alten Vorfilms. So sahen wir jedes Jahr aufs Neue den Disney-Kurzfilm vom Schwänlein, das die Eltern und Geschwister nicht mehr fand und sich deshalb einer Entenfamilie anschloss. Doch diese fremden Tiere hatten für das braun-schwarze Etwas nur spöttische Blicke übrig.

Der Vorfilm, die Verkäuferin mit ihrem Körbchen voller Cornettos und Eiskonfekt, der Gongschlag, der rote Vorhang, der sich langsam öffnete – in genau diesem Rhythmus und gerade durch die ritualisierte Form wurde der Kinobesuch zu einem richtigen Ereignis. In dieser Hinsicht sollte sich das Gloria noch zu einem echten Traditionshaus entwickeln. Jahre später, als meine Neffen ins Disney-fähige Alter kamen, schien die Zeit dort nämlich stehen geblieben zu sein. Noch immer waren sie da, wenn auch ziemlich ergraut, die hagere Frau und der kleine Mann. Selbst beim Eissortiment war man nicht mit dem modischen Schnickschnack gegangen. Nach wie vor lief der Entenfilm, auch wenn er inzwischen ein paar Risse hatte und der Ton mächtig schepperte. Spätestens beim Gongschlag spürte ich die seltsame Aufregung der Kindheit wieder in mir aufsteigen.

Leider ist es damit jetzt auch vorbei. Das Neusser Gloria wurde in eine Bank umgewandelt. Der Parkplatz in Kaarst ist mittlerweile asphaltiert, aber ein Kino hat bis heute nicht wieder eröffnet. ANKE LEWEKE