: Fieser die Glocken nie klingen
ADVENTSTERROR Wie kommt man durch die Weihnachtsmarkt-Saison? Eine Anleitung
Diese Weihnachtsmärkte öffnen an diesem Montag ihre gierigen Pforten:
■ Der Exklusive: „WeihnachtsZauber“ auf dem Gendarmenmarkt
■ Der Klassische: Weihnachtsmarkt am Opernpalais, Unter den Linden
■ Der Trashige: Weihnachtsmarkt an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche
■ Der Piefige: Berliner Weihnachtszeit, vor dem Roten Rathaus
■ Der Westliche: Weihnachtsmarkt am Schloss Charlottenburg
■ Der Ostige: Weihnachtsmarkt auf dem Alexanderplatz
VON ULI HANNEMANN
1. Örtliche Betäubung
Der Klassiker. Saisontypische Braincracker aus erhitztem Speisekerosin dämpfen das Leid, an einem Ort zu sein, wo man keinesfalls sein will: auf dem Weihnachtsmarkt. Und da bereits kurz nach Ostern die ganze Stadt ein einziger Weihnachtsmarkt ist, genügt ein Blick aus dem Fenster, ein Schritt aus der Tür, und schon befindet man sich in einer überfüllten Hölle aus Plingeling und geweihten Fleischabfällen.
Merke: Die lokalanästhetische Wirkung legt zielgerichtet ganze Hirnareale lahm, so dass nur noch die für kritiklose Gleichgültigkeit, Nippeserwerb und Dauergrinsen bespielt werden.
2. Vollnarkose
Bei dieser entschlossenen Flucht nach vorne bekommt man vom Anti-Christrummel garantiert nichts mehr mit. Und seit vergangenem Jahr hat auch der Dienstleistungssektor reagiert: Musste man sich früher in den vor Ort bereitgestellten Dixi-Klos Valium injizieren, gibt es mittlerweile im Eingangsbereich vieler Märkte einen nebenberuflichen Anästhesisten: Wird man von einem „sympathisch wirkenden Mann freundlich angesprochen“, ist man ziemlich sicher an den Richtigen geraten. Denn laut Polizei ist der „gesuchte Täter“ (unzulässige Vorverurteilung) „kein normaler Weihnachtsmarktbesucher“, worauf das Attribut „sympathisch“ hinweist, und auch „kein Berliner“ (Indiz: „freundlich angesprochen“). Bietet einem der Helfer auch noch ein Getränk an, um „die Geburt seines Kindes zu feiern“ (was gibt es da zu feiern: das Boot ist voll), kann es sich nur um besagte Servicekraft handeln. Beruhigt lässt man sich von dem mit K.O.-Tropfen gepanschten Sprit ins gnädigweiche Land der Bewusstlosigkeit tragen, wo es keine Weihnachtsmärkte gibt, sondern nur leise summende Bärchen mit goldenen Flügeln, die sehr niedlich aus offenen kleinen Güterwagen gucken, patamm, patamm, patamm …
Merke: Wer sich nur übergeben muss, hat ganz normalen Glühwein getrunken (s. 1.)
3. Überanpassung
Eine gute Methode besteht darin, sich treiben zu lassen. Wie beim Aikido spielt man mit der Kraft des Gegners (Weihnachtsmarkt), indem man dessen Angriff (Fraß, Tinnef, Lärm, Leute) durch kontrolliertes Nachgeben abwehrt. Alles bleibt im Fluss, man spart sich eigene Gedanken, somit Ärger und Frust und dadurch wiederum Energie. Wohin die Leute drängen, drängt man ebenfalls; kauft jemand Wollsocken, kauft man auch welche; nimmt sich der Nebenmann eine Wurst, sagt man „bitte mit Senf“, der Nebenmann wundert sich.
Merke: Wenn alle nach Hause gehen, geht man selbst nach Hause und fragt sich, wo man überhaupt war. Ein gutes Zeichen.
4. Augen zu und durch
Irrtümlich auf dem Weihnachtsmarkt gestrandet, schließt man sofort die Augen. Helfende Hände schieben einen durch vollgestopfte Gänge. Engel braten, Wurst weint, Kinder singen. Nach wenigen Meilen öffnet sich vor einem dem Gehör nach eine rostige Eisentür. Auch hier riecht es nach Schwenkgrillgut und Kerzen aus grob gedrehtem Bienenwachs. Aber auch nach Angst. Die Hände schieben weiter, aus dem behutsamen Leiten ist inzwischen ein grobes Schubsen geworden, in eine Richtung, in der es immer penetranter nach heißem Zucker und Schmorfleisch stinkt. Werden hier etwa Menschen wie Mandeln gebrannt? Auch die grässlichen Schreie, die man anfangs noch für Weihnachtslieder der „Gropiuslerchen“ hielt, sind nun eindeutig zu identifizieren. Man fragt sich, was das Ganze mit Weihnachten zu tun hat. Aber das fragt man sich auf Weihnachtsmärkten ja sowieso.
Merke: Die Eindrücke können natürlich auch eine Folge der Vollnarkose (S. 2.) sein.
5. Ironisierung
Natürlich kann man versuchen, über den Dingen zu stehen und an einer Zuckerwattebude über den „Trash-Faktor“ polemisieren: Ich hier oben im Himmel der Erkenntnis, und ihr dort unten in eurer Jauche aus klebriger Sentimentalität und kirchlich sanktioniertem Feierabendalkoholismus. Vielleicht plant man sogar einen launig distanzierten Zeitungsartikel zum Thema – ungefährer Tenor: Idioten, Fusel und nix wie weg hier. Leider werden einem die Notizen im Nu von Wildfremden mit heißem Blindmacher und Chinapfanne unleserlich gemacht, mit einem gelallten „Schreibstnda?“ aus der Hand gerissen und zu Konfetti aus gevierteilten Adjektiven zerfetzt.
Merke: Hochmut kommt vor dem Fall.
6. Zu Hause bleiben
Die edelste Methode, die Champagnerlösung, der Königsweg: Was gibt es Schöneres, als in der dunklen Jahreszeit bei Zwieback und Alraunenmilch zu Hause zu sitzen und sich die Telefonsexwerbung im „Sport“-Kanal anzugucken, während Kollegen, Freunde und Bekannte kichernd und weinselig über hell erleuchtete Weihnachtsmärkte ziehen und glauben, sie hätten Spaß?
Merke: Den meisten Spaß hat man stets alleine.