: Es wird kalt in Hellas
Die griechische Krise schafft eine tief gespaltene Gesellschaft. Die Verlierer wandern aus oder fürchten einen eisigen Winter. Zu den Gewinnern zählen die Faschisten. Kontext-Autor Fritz Schwab hat sich vor Ort umgesehen
von Fritz Schwab (Text und Fotos)
Die kleine Stadt heißt wirklich so. Drama, 40.000 Einwohner, Provinz Makedonien im Norden Griechenlands. Die Menschen wühlen in den Kartons mit Altkleidern, auf der Suche nach einem warmen Pullover oder einer Jacke. Rentner und Mütter mit kleinen Kindern. Die Kirche „12 Apostel“ ist Anlaufstation für die Opfer der Krise. Freiwillige Helfer betreiben hier eine Armenküche. „Von 12.30 bis 13.30 Uhr Essensausgabe“ steht auf einem Schild am Nebengebäude des orthodoxen Kirchenbaus. „Im Sommer waren es noch 200 Menschen, jetzt im November kommen schon 350. Jeden Tag werden es mehr“, berichtet ein Gemeindemitarbeiter. Nur die Kirche bietet für viele Hilfe.
Gleich um die Ecke das Kontrastbild. An der Hauptstraße reiht sich ein Café an das andere. In der warmen Mittagssonne sind fast alle Terrassenplätze besetzt. Auf den niedrigen Tischen stehen die Gläser mit Frappé, dem geschäumten Kaffee mit Eiswürfeln, und Schälchen mit Erdnüssen oder Chips. Das Publikum ist gemischt. Junge und Alte, und die meisten tragen große, schicke Sonnenbrillen und moderne Anoraks. Krise? Welche Krise?, fragt sich der Beobachter der Szenerie.
„Die Griechen müssen werden wie die Deutschen“
„Die Griechen sind Konsumterroristen“, sagt Kostas. Der junge Anwalt aus Thessaloniki hat in Gießen und Münster Jura studiert und glaubt, dass seine Landsleute sich in den kommenden Jahren umstellen müssen. Umstellen? „Ja, sie müssen mehr wie die Deutschen werden. Vernünftiger.“ Schon während seiner Studienzeit vor fast 20 Jahren habe ihn seine Schwester aus Griechenland immer wieder angerufen und ihm von Dingen erzählt, die man „jetzt in Griechenland kauft“: Elektroartikel, Mode, Möbel, und, und, und. Vieles aus dieser schönen Warenwelt habe es erst später in Deutschland gegeben, wundert sich Kostas noch heute.
Doch inzwischen hat Griechenland als Testmarkt ausgedient. Eine auf 23 Prozent erhöhte Mehrwertsteuer und die neue, mit der Stromrechnung verschickte Grundsteuer von bis zu zehn Euro pro Quadratmeter auf Wohn- und Ladenflächen sollten die notorisch leeren Staatskassen kurzfristig füllen. Aber tatsächlich haben die Maßnahmen ein noch nie erlebtes Ladensterben ausgelöst. In den Metropolen Athen und Thessaloniki genauso wie in Drama.
„Totalausverkauf“, „Zu vermieten“ oder „Zu verkaufen“ steht immer häufiger auf den Schaufenstern. Auch hier sticht der krasse Gegensatz ins Auge. Neben leergeräumten, verstaubten Ladenlokalen wirbt der Handy-Shop für das neue iPhone von Apple. Der spanische Bekleidungsriese Zara hat erst im vergangenen Jahr ein tempelartiges Großgeschäft mit drei Etagen eröffnet – gleich gegenüber vom zweistöckigen Nike-Shop. Und all das in der Kreisstadt Drama, in der das Durchschnittseinkommen weit unter Landesniveau liegt und es weder Industrie noch nennenswerten Tourismus gibt. Der Tabakanbau und -handel hat bis in die 1970er-Jahre die Region geprägt, doch das benachbarte Bulgarien produziert deutlich billiger. Bis heute trauern viele in Drama der Schließung der einzigen größeren Fabrik in den 80er-Jahren nach. Softex war ein Tochterbetrieb eines US-amerikanischen Papiertaschentuchherstellers und gab in seinen besten Zeiten über 1.000 Menschen Arbeit. Auf dem riesigen Areal der Industriebrache weit vor den Toren Dramas wächst heute nur noch Unkraut. Verblassende Transparente der Gewerkschaft gegen die Schließung hängen noch immer am Werkstor. Früher karrten über hundert Laster Tag für Tag den Rohstoff Holz aus den Bergen im Norden in die Fabrik. Holz feiert heute ein Comeback – als Heizmaterial.
Jeder fünfte Haushalt kann seine Wohnung nicht heizen
Den Griechen drohen kalte Monate. Nach einer Umfrage der Statistikbehörde Elstat kann jeder fünfte Haushalt die Wohnung im kommenden Winter nicht warm halten. Bei den ärmeren Griechen sollen es 39 Prozent der Haushalte sein. Im Oktober haben die Steuererhöhungen die Heizölpreise um 40 Prozent verteuert. In einer Hauruck-Hilfsaktion gibt es nun für Bedürftige Zuschüsse zur Heizölrechnung. Die Bürokraten haben dabei ihr Land in drei Kategorien unterteilt. A (kalt), B (mittel) und C (warm). Der Landkreis Drama gehört zu B. Dabei sinkt in den Dörfern im hochgelegenen Hinterland die Temperatur im Winter auf bis zu zehn Grad minus. Viele, und nicht nur auf dem Land, beheizen nur noch ihre alten Kanonenöfen. In der Stadt wird der offene Kamin vom trendigen Wohnobjekt zur bitteren Notwendigkeit. Selbst in vielen Mehrfamilienhäusern heizt der Eigentümer zentral für alle Parteien mit Holz. 130 Euro kostet die Tonne bereits – Tendenz steigend.
Sonntagvormittag in Taxiarches, einem 300-Seelen-Dorf bei Drama. Bei Pater Athanasios knacken die Scheite im Kamin, es ist wohlig warm im Wohnzimmer, der Fernseher überträgt die Liturgie aus der größten Kirche in Athen. Der Pater ist 83, seit Jahren in Rente, die Beine wollen auch nicht mehr so recht, da muss der Gottesdienst per TV ausreichen. Der Gast bekommt Bier angeboten. „Das Bier ist gut, es kommt aus Deutschland“, meint der Hausherr und lacht in seinen grauen Bart. Vor 60 Jahren, lange vor seinem Priesteramt, war er selber als Gastarbeiter in „Deutsland“. Sein erster Wagen war ein alter Mercedes. Für den haben die griechischen Kollegen zusammengelegt. Athanasios hatte als Einziger einen Führerschein. Noch heute kennt er die Bundesstraßen um Stuttgart. „B14: Waiblingen, Winnenden, Backnang, Swebis Chall.“ Die Liturgie im Fernsehen ist zu Ende, die Pfarrersfrau hat umgeschaltet. Jetzt kommt „Live aus dem Parlament“. Trotz Sonntag ist Debatte. Wieder einmal geht es um Kürzungsbeschlüsse, wieder einmal hängen davon die Kreditzusagen der Troika ab. Der Ministerpräsident Antonis Samaras von der konservativen Nea Dimokratia wirkt erschöpft. Sein größter Konkurrent, der junge, charismatische Chef der linken Sammlungsbewegung Syriza, Alexis Tsipras, fordert Neuwahlen und sagt: „Uns regieren keine Europäisten, sondern Merkelisten.“ Für Präsident Samaras ist dieses Szenario „ein Albtraum“. Nach einer Machtübernahme durch Syriza käme der Euro-Ausstieg, und dann würde Hellas „80 Prozent seines Lebensstandards verlieren“.
Für Pope Athanasios sind alle Diebe und Betrüger
„Alles Diebe und Betrüger.“ Einen längeren Kommentar hat der pensionierte Pope für „die in Athen“ nicht übrig. Seine Rente haben sie ihm in diesem Jahr von 1.300 Euro auf knapp 1.000 Euro zusammengekürzt. Für ihn und seine Frau würde das wohl noch immer reichen, doch eine Tochter ist arbeitslos und der Enkel hat nach seinem Militärdienst auch noch keinen Job gefunden. „Ihr in Deutschland habt leicht reden, ihr habt Arbeit. Hier gibt es keine Arbeit.“ Tatsächlich nähert sich die Arbeitslosenquote der 25-Prozent-Marke, unter den jungen Griechen hat jeder Zweite keine Arbeit. Und selbst wer einen Job ergattert, muss häufig mit einem Mindestlohn von rund 500 Euro auskommen. Dabei sind Lebensmittel wie Milch und Fleisch teurer als in Deutschland. Das Armutsrisiko hat nach dem Jahresbericht der Statistikbehörde 21,4 Prozent der Bevölkerung erfasst. Innerhalb der EU liegt dieser Wert nur in Bulgarien, Rumänien und Spanien höher.
Inzwischen redet in Athen ein Abgeordneter der Partei „Goldene Morgenröte“ (Xrissi Avgi) darüber, dass man bei den Reichen wegnehmen müsse und nicht bei den Armen. „Das sind die Faschisten“, sagt Pater Athanasios. Ein leicht verfremdetes Hakenkreuz als Parteisymbol lässt wenig Zweifel an der Gesinnung der Männer, die überwiegend glatzköpfig rechts außen im griechischen Parlament sitzen. Vor dem Ausbruch der Krise 2009 war Xrissi Avgi ein Splittergruppe, mit Wahlergebnissen von unter einem Prozent. Aktuelle Meinungsumfragen sehen die Griechen-Nazis als drittstärkste Partei – hinter Syriza und Nea Dimokratia, aber weit vor der sozialistischen Pasok. Die Pasok ist die Partei, die mit ihren Expremierministern Andreas Papandreou und Sohn Giorgos inzwischen für alles verantwortlich gemacht wird, was in Griechenland in den vergangenen 30 Jahren schiefgelaufen ist. Aufgeblähter Staatsapparat, Korruption, Misswirtschaft. Die Nea Dimokratia hatte während ihrer kurzen Regierungsphasen allerdings auch nichts Besseres zu tun, als die Behörden mit eigenen Günstlingen zu bestücken und ihren Parteifreunden lukrative Staatsaufträge zuzuschanzen. Und ausgerechnet auf diesen beiden Parteien ruhen nun die Hoffnungen der EU-Gewaltigen. Das Zwangsbündnis Pasok/ND soll Griechenland vor dem Staatsbankrott retten und in der Eurozone halten.
Draußen haut der Nachbar von Pater Athanasios die reifen Oliven mit einem Stecken vom Baum, Ende November wird der 40-Jährige zu seinem Bruder nach Mainz fahren und in dessen Restaurant mithelfen. Die Frau ist schon vor ein paar Wochen vorgefahren, die beiden Töchter, 14 und 16, bleiben bei den Großeltern zurück.
Die Rentner erregen sich über die Faulpelze in den Behörden
Kalos Agros, 3.000 Einwohner, zehn Kilometer hinter Drama auf dem Weg nach Thessaloniki. Im Kafenion von Wirtin Anna sind die Tische mit Filztüchern bespannt. Die Männer spielen Karten oder Tavlis – das griechische Backgammon. An der Wand hängt ein offizielles, schön gerahmtes Schild „Rauchen verboten“. Fast alle rauchen. Die Kneipe ist gut besucht. Die meisten Männer sind über 60. Viele waren als Gastarbeiter in Deutschland. Das Meinungsbild ist uneinheitlich. Vor allem die Männer, die in deutschen Fabriken jahrzehntelang malocht haben und heute Renten von etwas über 1.000 Euro beziehen, regen sich über „die Faulpelze aus den Behörden“ auf, die bereits nach 25 Jahren im griechischen Staatsdienst „2.000 Euro und mehr“ als Pension bekommen. Als größte Sauerei wird die Praxis gegeißelt, dass es „Entlassungen“ bei Arbeitnehmern gab, die nach 20 Jahren eine volle Rente kassierten und sich dann ohne Abzüge einen anderen Job geangelt haben.
Damit soll nun Schluss sein. Das Rentenalter soll allgemein auf 67 Jahre steigen, und Renten über 1.000 Euro werden gestaffelt gekürzt. Ob's hilft? Der pensionierte Unteroffizier Panagiotis argumentiert historisch. „Die Maßnahmen produzieren Armut und Hunger. Ihr wisst in Deutschland sehr gut aus eigener Erfahrung, dass Armut und Hunger Faschismus erzeugen.“ Ein echtes Totschlagargument, doch am Ende des Abends übernimmt ein Grieche die Zeche des deutschen Gastes. Eine richtige Rechnung hat die Wirtin allerdings auch nicht ausgestellt.
Kontext-Autor Fritz Schwab war zur Olivenernte bei seinem Schwiegervater Michalis, der in den 60er-Jahren bei der Heilbronner Läpple AG gearbeitet hat.