: PRESS-SCHLAGDie Trauer der Masse
Es ist noch gar nicht allzu lange her, da wurden Selbstmörder geächtet. Sie verhöhnten Gott, postulierte der Klerus. In monotheistischen Religionen stehe es nur Gott zu, Leben zu geben und Leben zu nehmen; das waren die Glaubenssätze. Im Judentum war es bis ins 20. Jahrhundert so, dass Selbstmörder nach ihrem Tod auf dem Friedhof in einem Eck begraben wurden. Selbstmörder waren nicht viel besser als Schwerverbrecher. Katholiken, die ihrem Leben ein Ende gesetzt hatten, wurde nicht selten ein Begräbnis auf Friedhöfen verwehrt. Die betroffene Familie war stigmatisiert, oftmals auch noch die folgende Generation. Sie wurden ausgegrenzt. Der Freitod legte sich wie ein Fluch über sie.
Wie die Trauer um Robert Enke lehrt, ist es heute ganz anders. Fast scheint es so, als wäre eine Kehrtwende im Umgang mit dem Suizid vollzogen. Der Tod des ehemaligen Torhüters von Hannover 96 ist Anlass zu kollektiver, öffentlicher Trauer. Massen identifizieren sich mit dem Schicksal des Keepers, als hätten sie einen nahen Verwandten verloren. Sie stillen ihre Sehnsucht, mit anderen ihre Gefühle zu teilen, in einer Wolke aus Trauer aufzugehen, sich selbst zu verlieren. Psychologen würden wohl in der Art und Weise der Trauerarbeit eine projektive Identifizierung erkennen. Das heißt: Es geht den Trauernden sehr wohl um Robert Enke, aber auch um sich selbst. In ihm erkennen sie die Tristesse ihres eigenen Lebens, die Zumutungen des Alltags, die Niedergeschlagenheit, die sie nach einer Entlassung oder Enttäuschung durchleben. Sie glauben, Robert Enke zu kennen, dabei (er-)kennen sie vor allem sich selbst. Das Gefühl der Leere sucht nicht nur klinisch Depressive heim, es ist eine menschliche Konstante. In der Vorstellung hat auch so gut wie jeder schon einmal an Selbstmord gedacht. Auch diese schwarzen Gedanken sind nur allzu menschlich. Dass es jetzt, wenn man so will, zu einem Trauerexzess gekommen ist, dass selbst bei einem Freundschaftsspiel in Doha eine Schweigeminute für den deutschen Keeper eingelegt wurde, bleibt allerdings rätselhaft. Manch einer findet die überbordernde öffentliche Betroffenheit schon wieder geschmacklos. Und fragt sich: Geht’s nicht ein bisschen stiller, ein bisschen kleiner, etwas weniger pastoral?
Psychiater wissen, dass Männer oft aggressive Varianten der Selbsttötung wählen. Sie werfen sich vor die U-Bahn oder lassen sich von einem Regionalzug überrollen, so wie es Robert Enke getan hat. Selbstmorde sind Verzweiflungstaten, sicher, sie sind aber auch aggressive, egomanische Akte, die den Hinterbliebenen ein bleischweres Erbe hinterlassen. Sie verändern zudem das Leben Unbeteiligter, der Zugführer etwa, die nicht verhindern konnten, den Lebensmüden mit dem Zug zu überrollen. Sie müssen erst damit klarkommen, dass sie keine Schuld am tragischen Geschehen haben. Oft endet ihr Trauma, enden ihre Selbstvorwürfe in der Arbeitsunfähigkeit. Zurück bleibt auch die traumatisierte Familie, im Fall von Robert Enke die Adoptivtochter und seine Frau Teresa. Ihr Leben ist nicht mehr das alte. Es findet gerade vor aller Augen statt; es ist schwer zu sagen, ob das ihre Trauerarbeit, vor allem die, die noch auf sie zukommt, einfacher macht. Eines ist jedoch gewiss: Die Hinterbliebenen profitieren davon, dass die Gesellschaft säkular und offen ist. Teresa Enke muss nicht mehr mit dem Stigma der Entrechtung, mit dem Schweigen leben. Robert Enke wurde nicht im hintersten Eck eines Friedhofs verscharrt, er bekam eine öffentliche Trauerfeier.
So gut es ist, Tabuthemen zu behandeln und unwürdige Traditionen zu beenden, so falsch wäre es jetzt, Robert Enke zu einem Helden zu stilisieren oder gar zu einem Märtyrer für alle Trübsinnigen dieser Republik. Er hat sich umgebracht. Wenn jene, die sich mit dem bittersüßen Saft der Larmoyanz besoffen haben, wieder nüchtern werden, dann sollten sie erkennen, dass es noch andere Wege der Krisenbewältigung gibt. MARKUS VÖLKER