Berliner Szenen: Aufschiebende Wirkung
Gut gegen alles
Wahnsinnig schnell rast die Zeit vorbei. Oder eher gemächlich, nur dass es so früh dunkel ist, stört ein bisschen.
Der Tag beginnt mit Porridge. K. hatte zu Weihnachten erklärt, das wäre gut gegen alles. Erst nach dem Porridge darf ich rauchen und Kaffee trinken. Ich ärgere mich, weil ich vergessen hatte, den Laptop anzuschalten, aber die Zigarette schon angezündet habe. Der Laptop braucht ein paar Minuten, bis er an ist. Es ist Verschwendung, eine Zigarette zu rauchen, ohne dabei schreiben zu können, weil danach muss man ja gleich wieder eine rauchen.
Im Internet höre ich verschiedene Liveversionen des Grateful-Dead-Klassikers „Brokedown Palace“, von dem ich in der Nacht geträumt hatte, und poste sie. Nur einer Facebook-Freundin gefällt das. Sie ist ein Blumenkind der frühen Siebziger.
Ich versuche zu schreiben, beobachte die Straßenkreuzung, schalte die Playstation an, stelle mich vor den Fernseher und spiele eine halbe Stunde Bogenschießen. Manchmal fällt mir dabei die Eye-Cam vom Fernseher. Und danach spiele ich ein bisschen „Medieval Madness“, den Flipper, an dem ich so oft mit M. geflippert hatte. Er hätte seine letzte Kugel vor vier Jahren verschossen, hatte er im Pflegeheim erzählt, wusste aber nicht mehr, auf welchem Gerät.
Keine Ahnung, wann ich zuletzt auf einem echten Flipper gespielt habe. Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich mich nie melde, dann ist auch schon der zweite Kaffee fertig und ich beantworte eine Weihnachtsmail. Dass ich die Frage, wie es mir ginge, als übergriffig empfunden hatte, kommt mir gestört vor.
Ich notiere Sachen, spiele drei Partien Schach online, gucke zwanzig Minuten Facebook. Mir geht es wieder total auf den Sack, dass Leute, die vor acht Jahren noch normal schienen, plötzlich so erwachsen tun. Selber pflege ich meinen Hang zum Aufschieben von Erledigungen vermutlich aus Jugendlichkeitswahn, habe ich mir überlegt.
Detlef Kuhlbrodt
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